„Im nationalsozialistisch besetzten Europa wurde das Nachdenken über Europa in den Untergrund gezwungen, aber es fand weiterhin statt.“ Wer sich daran beteiligte, mit welcher Intensität, mit welchen Konzepten und Zielvorstellungen, darüber informiert ein vom Zeithistoriker Andreas Wilkens (Université de Lorraine, Metz) herausgegebener Sammelband über „Europapläne im deutschen und europäischen Widerstand 1939–1945“.
Die Europa-Ideen des deutschen Widerstands kommen darin freilich nur in recht abgespeckter Form vor: in der Skizze Joachim Scholtysecks (Bonn) über die Neuordnungsvisionen des um Helmuth James von Moltke gruppierten Kreises, der zwischen 1940 und 1943 auf dessen schlesischem Familiengut Kreisau zusammentraf, um im Geist der christlichen Ökumene Gesellschaftsmodelle für eine Zeit nach Hitler zu erörtern. Eine zentrale Rolle in den vom Völkerrechtler Moltke und dem Diplomaten Adam Trott zu Solz dominierten Gesprächen spielten dabei die deutsche Außenpolitik und die zukünftige europäische Friedensordnung.
Das von Moltke fixierte Kreisauer Minimalprogramm sah die Preisgabe der hegemonialen Stellung des Deutschen Reiches, die Abkehr von den traditionellen Regeln internationaler Politik, ja den „Ausstieg aus der Geschichte des Staatensystems“ bis hin zur Auflösung des Nationalstaats zugunsten eines europäischen Bundesstaates vor. Wie der Vergleich mit den hier analysierten, in der Illegalität formulierten Plänen französischer, italienischer, belgischer, holländischer und tschechischer Politiker und Intellektueller offenbart, lag dieser fundamentalistische Affekt gegen den Nationalstaat im internationalen Trend. Zumindest bei denen, die im Exil und in der Illegalität keine politische Verantwortung trugen.
Nationalstaat stand bei Widerständlern nicht hoch im Kurs
Denn jenseits des Kreisauer Elfenbeinturms, „selbst in den westlichen parlamentarischen Nationalstaaten“, daran erinnert Scholtyseck beiläufig, habe man selbstverständlich weiterhin in den Kategorien der Machtpolitik gedacht und danach gehandelt. Was Moltke und Trott in einigen ihrer wirklichkeitsnäheren Reflexionen zur Außenpolitik auch berücksichtigten, wenn sie, den polnischen Ultranationalismus in Rechnung stellend, erwogen, Ostpreußen und Schlesien an eine wiedererrichtete Republik Polen abzutreten.
Peter Graf Yorck von Wartenburg, geboren am 13. November 1904 in Schlesien, Jurist, lehnt das Nazi-Regime und den Krieg ab, wird nicht NSDAP-Mitglied. Ab 1940 trifft er andere NS-Gegner im „Kreisauer Kreis“ – und plant die demokratische Neuordnung für die Zeit nach Hitler. 1/2 pic.twitter.com/g5HoKzPNoZ
— Felix Bohr (@felix_bohr) November 13, 2023
Warum in diesem Kontext der Kreisauer Selbstauflösungsutopien nicht auch zwei Exilanten behandelt werden, deren bis an die Grenze zur Anarchie führende „Small is beautiful“-Visionen seit den 1970ern in der linksökologischen Szene nachhaltige Resonanz erfahren, ist unverständlich: Ernst Friedrich Schumacher (1911–1977) und Leopold Kohr (1909–1994). Hatte Schumacher ab 1939 noch zur ökonomischen und finanziellen Mobilmachung der fossilen britischen Kriegswirtschaft beigetragen, um erst nach 1945 seine Ideen über Selbstverwaltung und lokale Produktion zwecks ökologischer Weltrettung zu propagieren, gründete der Österreicher Kohr mit Otto von Habsburg 1938 in Paris eine Widerstandsgruppe, die im publizistischen Kampf gegen Hitler eine Zerschlagung der Großmächte („The Breakdown of Nations“, 1941) forderte, mit dem zu zerstörenden Deutschen Reich aber nur den Anfang machen wollte auf dem Weg zum „Europa der Kantone“, von denen nicht weniger als 75 an die Stelle der Nationalstaaten des alten Kontinents treten sollten.
Die beiden einzigen Verteidiger des Nationalstaats, die im breiten Spektrum der Beiträge sichtbar werden, heißen Charles de Gaulle und Josef Stalin. Der französische General weist im Londoner Exil alle supranationalen Projekte, die ihm von Exponenten der Résistance zugemutet wurden, als Anschläge auf die nationale Identität zurück und will, wie Christian Chevandier (Université du Havre) referiert, nichts hören von den Sirenengesängen des vorgeblichen „überholten Souveränismus“. Der als Stalin bekannte Georgier Iosseb Dschughaschwili wiederum, der nach der Oktoberrevolution zunächst als Volkskommissar für nationale Minderheiten zuständig war, wußte die Macht eines Zentralstaats zu schätzen, um eben diese „Völker der Sowjetunion“ am Ausbruch aus ihrem Gefängnis zu hindern. Entsprechend Moskauer Anweisungen hielt sich die Europabegeisterung der KPD schon während der Weimarer Zeit in engen Grenzen.
Stalin hielt nichts vom Internationalismus
Coudenhove-Kalergis Pan-Europa, das Locarno-Europa von Stresemann und Briand sowie ähnlich multilaterale Föderationsprojekte galten nach Maßgabe von Lenins programmatischen Äußerungen über „Die Losung der Vereinigten Staaten von Europa“ (1915) als Varianten kapitalistisch-imperialistischer Herrschaft. Das „internationale Finanzkapital“ erprobe mit diesen Strukturen und der dazu passenden kosmopolitischen Ideologie neue Methoden der Unterjochung und Ausbeutung der Arbeiterklasse und der Konsolidierung der kapitalistischen Ordnung. Eine europäische Friedensordnung lasse sich daher nicht durch Aufgabe nationaler Souveränität erreichen, sondern nur durch die revolutionäre Abschaffung des kapitalistischen Systems. Mehr als Parolen zum Weltfrieden und zur sozialen Gerechtigkeit seien von den bis 1939 ohnehin nicht mehr aktionsfähigen deutschen Kommunisten nicht mehr nach außen gedrungen.
Das änderte sich erst im Juli 1943 mit der Gründung der antifaschistischen Widerstandsgruppe „Europäische Union“, die für ein „demokratisches, freies und sozialistisches Europa“ warb. Der europäische Charakter der kleinen Gruppe, der unter anderem Robert Havemann angehörte, resultierte aus der Kontaktaufnahme zu ausländischen Zwangsarbeitern, die sie für den „antifaschistischen Kampf“ rekrutieren wollte.
Aber selbst dieses bescheidene Aufleben internationalistischer Tendenzen entsprach nicht dem unbeirrbar in nationalstaatlichen Rastern denkenden Stalin. Der nach Stalingrad weiterführende Überlegungen zur europäischen Nachkriegsordnung anstellte, um der UdSSR durch die Teil-Besetzung Deutschlands eine möglichst günstige geopolitische Ausgangslage für die sich abzeichnende Rivalität mit den USA zu sichern. Und die Beschwörung der „internationalen Solidarität“, des „Internationalismus“, entpuppte sich wieder einmal als das, was sie vom Moskauer Parteistandpunkt von jeher war, als Phraseologie: Ende der 1940er wurden die deutschen, in Buchenwald und Mauthausen befreiten Kommunisten sowie die in die Sowjetische Besatzungszone zurückgekehrten „Westemigranten“ gerade wegen ihres fortbestehenden Glaubens an den Internationalismus im Parteiapparat der SED „gesäubert“.
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Andreas Wilkens (Hrsg.): „Wir kämpfen für ein Europa des Friedens“. Europapläne im deutschen und europäischen Widerstand 1939–1945. Lukas Verlag, Berlin 2024, gebunden, 324 Seiten, 29,80 Euro.
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Quellenlink : Zweiter Weltkrieg: Zweiter Weltkrieg Affekte gegen den Nationalstaat