Vor 35 Jahren: Vor 35 Jahren Deutscher Herbst

Vor einem Monat in der ungarischen Botschaft in Berlin. Péter Györkös, Emissär Budapests, erinnerte an den 35. Jahrestag der Öffnung der Grenze Ungarns nach Österreich. Die Entscheidung der reformkommunistischen ungarischen Führung, DDR-Bürger nicht mehr am Grenzübertritt zu hindern, brachte eine Kettenreaktion in Gang. Wie das erste Loch in einem von Hochwasser ermüdeten Deich zunächst ein Rinnsal durchläßt, bis dieser endgültig zusammenbricht.

Während Tausende DDR-Bürger durch den löchrigen Eisernen Vorhang von Ungarn nach Österreich flüchten, hält am 7. Oktober 1989 der SED-Staat ein letztes Mal prunkvoll Hof. Staatsratsvorsitzender Erich Honecker läßt den 40. Jahrestag der Gründung der DDR mit einer riesigen Militärparade und Hunderttausenden nach Berlin beorderten, auf Kommando jubeln FDJ-Mitgliedern begehen – eine morbide Abschiedsvorstellung.

Der aus Moskau angereiste sowjetische Staatschef Michail Gorbatschow wird zum Widerwillen der SED-Spitze als Reformer mit „Gorbi, Gorbi“-Rufen frenetisch begrüßt. Demonstrationen von Kritikern des SED-Regimes schwellen an und werden noch einmal brutal niedergeknüppelt.

Bleierne Atmosphäre herrschte vor deutschem Herbst

Nur einen Monat wird es vom 7. Oktober noch bis zum 9. November dauern, als die Mauer in Berlin endgültig unter dem Druck des Unmuts der Deutschen in der DDR eingedrückt und sich das Tor zur Wiedervereinigung öffnen wird.

Nachgeborene können die Atmosphäre schwer nachempfinden, welch bleierne Platte auf Deutschland bis zu jenen denkwürdigen Tagen dieses deutschen Herbstes lag. Wie sehr sowohl im Westen als auch im Osten es offiziell als gesetzt galt, daß Mauer und Teilung noch auf Jahrzehnte bestehen würden, der „Status quo“ unantastbar sei. Sowohl diejenigen, die die Flucht ergriffen als auch diejenigen, die blieben und auf die Straße gingen, sorgten für den Sturz eines übermächtig geglaubten Zwangssystems.

Die friedliche Überwindung der SED-Diktatur, von Mauer und Stacheldraht, und die Wiedererlangung von Freiheit, Demokratie und nationaler Selbstbestimmung müßten unser Volk unverändert mit Stolz erfüllen. Woher dann der Kleinmut?

Der ungarische Botschafter ließ in seiner Rede Bedauern anklingen, wie gering das Interesse des offiziellen Deutschland am Beitrag der Ungarn zur Erlangung der Freiheit der Deutschen sei. Dem Stolz auf diese demokratische Selbstbefreiung einen angemessenen öffentlichen Stellenwert zu geben, wäre übrigens ein Schlüssel dazu, die wachsende Entfremdung zwischen Bürgern und Staat insbesondere im Osten zu überwinden. Es wäre ein Fehler, diesen Freiheitswillen ein weiteres Mal zu unterschätzen.

JF 41/24

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