Sicherheitspolitik: Sicherheitspolitik Phantomdebatten über Atombomben

Es ist ein altbekanntes politisches Ritual: Da wird eine steile These formuliert, die für ordentlich Schlagzeilen und mal mehr, mal weniger Empörung sorgt. Droht das Ganze außer Kontrolle zu geraten, ist der Urheber gefordert, die Sache „wieder einzufangen“. Aktuelles Beispiel: „Das ist keine Forderung, sondern eine Feststellung, eine sehr realistische Feststellung.“ Gesagt hat das Katarina Barley, die SPD-Spitzenkandidatin für die Europawahl. 

Damit wollte sie im ZDF am Sonntag einfangen, was sie fünf Tage zuvor losgetreten hatte. Im Interview mit dem Tagesspiegel meinte die EU-Abgeordnete und frühere Bundesjustizministerin, „angesichts der jüngsten Äußerungen von Donald Trump“ sei auf den nuklearen Schutzschirm der Amerikaner für die Europäer „kein Verlaß mehr“. Die anschließende Frage, ob die EU dann eigene Atombomben brauche, beantwortete Barley so: „Auf dem Weg zu einer europäischen Armee kann also auch das ein Thema werden.“

Heikles Thema bei den meisten Parteien

Die erste und deutlichste Klatsche dafür bekam Barley gleich aus der eigenen Partei: „Das ist eine Eskalation in der Diskussion, die wir nicht brauchen“, versuchte Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) einen Debatten-Flächenbrand im Keim zu ersticken. Das ganze Thema sei zu „komplex“, er „halte nichts von aufgeregten Debatten zur Unzeit“. Im Klartext: Genossin, du hast keine Ahnung, halt den Mund!

Auch die Vorsitzende des Verteidigungsausschusses im Bundestag und EU-Spitzenkandidatin für die FDP, Marie-Agnes Strack Zimmermann, beschied Barley, besser zu schweigen. „Das Thema ‘Atomar’ gehört nicht in der Öffentlichkeit diskutiert“. Ähnlich der außenpolitische Sprecher der Union im Bundestag, Norbert Röttgen. Er meinte, der Vorstoß sei „in jeder Hinsicht, rechtlich, europa- und sicherheitspolitisch nicht von dieser Welt“. Sein stellvertretender Fraktionschef Johann Wadephul forderte eine Klarstellung von Kanzler Olaf Scholz, inwiefern dies abgesprochen oder eine offizielle Position der Bundesregierung sei. Er fürchte, „daß die Aussage die völlige Ahnungs- und Bedeutungslosigkeit von Frau Barley belegt“.

Potentiell fruchtlose Verhandlungen nötig

Dabei ist die ganze Debatte ohnehin nicht neu. Bereits im Frühjahr 2017 wurde kontrovers über eine mögliche europäische nukleare Abschreckungsstrategie diskutiert. Anlaß waren – wie heute – Überlegungen, die Vereinigten Staaten könnten ihr Engagement in der Nato reduzieren. Zugleich stellte sich die Frage, ob Franzosen und Briten – die einzigen europäischen Atomwaffen-Mächte – wegen der hohen Kosten für den Erhalt oder die Modernisierung ihres Arsenals eine finanzielle Beteiligung anderer Partnerstaaten anregen könnten. Einen Militärhaushalt hat die EU indes nicht. Aufkommen müßten für eine solche Finanzierung also die nationalen Verteidigungshaushalte der anderen Staaten, geregelt über bilaterale Verträge.

Wobei sich daran anschließend fragen ließ: Welche Gegenleistungen würden Paris oder (nicht im EU-, aber im Nato-Rahmen) London dafür erbringen? Würden die beiden einen Teil ihrer Hoheit über die eigenen Waffen, über die „roten Knöpfe“ abgeben? Ernsthafte Hinweise auf eine diesbezügliche Bereitschaft gab es bisher weder bei Franzosen noch Briten. Auch eine Stationierung in anderen europäischen Ländern erscheint eher unrealistisch, da sich der Großteil der französischen Atomwaffen seegestützt auf U-Booten befindet. Welchen sicherheitspolitischen Nutzen hätte Deutschland also von solch einer kostspieligen Beteiligung?

Ein deutsches Atombomben-Programm würde die Einheit in Frage stellen

Die weitergehende Überlegung wäre also, ob dann nicht Berlin eine eigene Atombombe anschaffen sollte. Klar ist, daß zwei völkerrechtlich bindende Verpflichtungen einer eigenen atomaren Bewaffnung Deutschlands entgegenstehen: Der Vertrag über die Nichtverbreitung von Kernwaffen (NVV) von 1968, auch „Atomwaffensperrvertrag“ genannt, und der „Vertrag über die abschließende Regelung in bezug auf Deutschland“, besser bekannt als „Zwei-Plus-Vier“-Vertrag vom September 1990. Dieser faktische Friedensvertrag zwischen den beiden deutschen Staaten und den vier Siegermächten des Zweiten Weltkriegs machte den Weg zur Wiedervereinigung frei. 

Dort wird noch einmal ausdrücklich als bindend bestätigt: „Die Regierungen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik bekräftigen ihren Verzicht auf Herstellung und Besitz von und auf Verfügungsgewalt über atomare, biologische und chemische Waffen. Sie erklären, daß auch das vereinte Deutschland sich an diese Verpflichtungen halten wird.“

Wer also plant, die Bundesrepublik in eine Nuklearmacht zu verwandeln, müßte nicht nur den Atomwaffensperrvertrag kündigen, sondern auch das völkerrechtliche Vertragswerk, das die deutsche Einheit ermöglichte. Außer solchen hohen rechtlichen Hürden bestehen auch technische. Viele Experten bezweifeln, daß Deutschland nach seinem Ausstieg aus der friedlichen Nutzung der Kernenergie überhaupt in der Lage wäre, eine Atombombe herzustellen.

US-Arsenalnutzung auch im äußersten Ernstfall fraglich

Nicht betroffen von solchen rechtlichen und technischen Hürden ist nach wie vor die sogenannte „nukleare Teilhabe“. Sie basiert auf dem „Zwei-Schlüssel“-Prinzip, wonach ein Kernwaffenstaat entsprechende Waffen auf dem Hoheitsgebiet eines anderen Staats stationiert hat, über deren Einsatz beide Staaten nur gemeinsam entscheiden können. So haben die Amerikaner – offiziell nicht bestätigt – auf dem Fliegerhorst im rheinland-pfälzischen Büchel etwa 20 thermonukleare Bomben („Wasserstoffbomben“) des Typs B61 gelagert.

Insgesamt sollen es in Europa 150 Stück an fünf weiteren Standorten in Nato-Mitgliedsstaaten sein. Es handelt sich um Freifall-Bomben, die nicht gelenkt werden können, sondern von Flugzeugen – darunter deutschen „Tornados“ beziehungsweise nach Einführung deutschen F-35 – ins Ziel gebracht werden müßten. Nicht zuletzt aufgrund dieser eher altmodischen und aufgrund moderner Flugabwehr risikoreichen Methode ist sogar im äußersten Ernstfall („Ultima ratio“) der Nutzen solcher Waffen mittlerweile fraglich.

Hohe Investitionen und überlebensfähiges Arsenal benötigt

Von einer „Pseudodebatte“ spricht mit Blick auf Barleys Äußerungen und das Folgende der Fachmann für das Thema „Nukleare Abschreckung“ bei der Stiftung Wissenschaft und Politik, Peter Rudolf. Kaum jemand sei sich der technischen oder strategischen Folgen einer solchen Idee bewußt, kritisierte er in der FAZ. „Eine Atombombe zu haben bedeutet ja erst einmal gar nichts.“ Im Gegenteil würde dies eher die Krise verstärken. Notwendig zur Abschreckung sei ein Arsenal von „überlebensfähigen“ Waffen. „Dazu bräuchte man nuklear angetriebene U-Boote, die monatelang auf dem Wasser bleiben können“, wandte Rudolf ein.

Tatsächlich ist für ein wirksames „Gleichgewicht des Schreckens“ die sogenannte Zweitschlagsfähigkeit notwendig. Das heißt vereinfacht gesagt, ein atomar angegriffenes und möglicherweise schwer verwüstetes Land könnte mit seinen auf U-Booten stationierten Atomsprengköpfen den Gegner ebenfalls noch verheerend treffen. Seit dem Brexit ist Frankreich das einzige EU-Mitglied, das solche Kapazitäten hat. Dafür muß es allerdings jährlich etwa ein Zehntel seines Verteidigungshaushalts in die atomare „Force de Frappe“ investieren.

Nicht nur Trump wollte die Atombomben aus Europa abziehen

Entscheidend aber ist: Bereits jetzt sind sowohl die französischen als auch die britischen Atomwaffen Teil der europäischen Abschreckung, da Artikel 5 des Nato-Vertrags beide Länder verpflichten würde, im Falle eines Angriffs Deutschland (oder jedem anderen Mitgliedstaat) beizustehen. Frankreich ist zudem als EU-Mitglied in die europäische Bündnisklausel (Artikel 42 des Lissabon-Vertrags) mit einer Beistandspflicht eingebunden.

Inwieweit man sich hierzulande noch auf die Amerikaner verlassen könnte, wird nicht zum ersten Mal hinterfragt. So machte vor 14 Jahren das Gerücht die Runde, Washington erwäge, seine in Deutschland gelagerten Atombomben abzuziehen. Präsident war seinerzeit nicht Donald Trump, sondern sein Vorgänger, der Demokrat Barack Obama.

JF 09/24

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