Religion nach dem Bedeutungsverlust: Religion nach dem Bedeutungsverlust Abschied der Volkskirchen: Die Messe ist gelesen

Auch die Kirche muß rechnen. Aber sie rechnet nicht gern, denn das Ergebnis sieht traurig aus. Die Zahl der Mitglieder schrumpft, schrumpft ständig und unaufhaltsam und läßt die ohnehin schon kleine Schar der Gläubigen immer kleiner werden. Glaube, Liebe, Hoffnung – die alte Trias wird in jedem Gottesdienst beschworen. Aber sie trägt nicht mehr weit. Der Glaube schwankt, die Hoffnung bröckelt, und in der Liebe geht die Kirche lauter neue Wege.

Wie alle Welt versteht sie sich als Dienstleistungsbetrieb. Sie bietet einen Service und wirbt um Kunden; doch dieser Service ist nicht mehr gefragt, die Kunden wollen ihn nicht mehr und bleiben aus. „Kirchenzugehörigkeit ist unfreiwillig“ hatte Jürgen Moltmann, der Theologe der Hoffnungslosigkeit, vor nun fast fünfzig Jahren festgestellt, „Kirchaustritt ist freiwillig“.

Ladenhüter Religion

Das hat sich herumgesprochen und aus dem Kirchenaustritt eine Massenbewegung gemacht. Die Leute halten eine Kirche, die ihnen Allerweltsweisheiten als höhere Vernunft serviert, für überflüssig. Sie verhalten sich als Kunden, wählen die Freiheit und treten aus.

Der Osten ist dem Westen dabei weit voraus. Das Bistum Magdeburg, eine Gründung Kaiser Ottos des Großen, zählt heute nur noch 70.000 Gläubige, fast ebenso viele wie der Pfälzer Karnevalsverein mit Sitz in Speyer. Nur drei Prozent der Einwohner eines Sprengels, der neben dem Land Sachsen-Anhalt auch Teile Brandenburgs und des Freistaats Sachen umfaßt, bekennen sich zur alleinseligmachenden Kirche.

Gleichstellungspolitik mit göttlichem Segen

Der zuständige Bischof ist beunruhigt, sucht nach einer Antwort und hat sie auch gefunden. Wie alle zölibatär Lebenden erfahren in der Kunst der Liebe, setzt er, nachdem ihn die Mehrheit verlassen hat, auf schöpferische Minderheiten, wie er sie nennt, und lädt zu queeren Segensfeiern ein. Willkommen ist jeder, „egal ob homo, hetero oder omnisexuell; egal ob katholisch, evangelisch oder konfessionsfrei; egal ob verheiratet oder nicht“. Die Sachsen haben das ganz gut verstanden. Sie lassen eine Kirche, der alles egal ist, links liegen und bleiben zu Haus.

Wie alle Welt betreibt die Kirche Gleichstellungspolitik. Gleichstellung, das ist die quotengesteuerte, amtlich überwachte und statistisch garantierte Form von Nächstenliebe, die ihrerseits – und sicherlich aus gutem Grund – als die Kardinaltugend der christlichen Gemeinde gilt. Aber wer ist der Nächste? Der Nächste, sagt das Evangelium, ist der Mensch, der auf dem Weg von Jerusalem nach Jericho unter die Räuber gefallen und schwer verletzt am Wegrand liegengeblieben war. In diesem Zustand wurde er dem barmherzigen Samariter, der zufällig desselben Weges kam, zum Nächsten. Der Nächste, lehrt die Kirche, ist das Opfer; das Opfer hat Vorrang; und Vorrang bedeutet: Anspruch auf alles Mögliche „bis hin zur Selbstaufgabe“, wie die ehemalige Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche erläutert hat.

Glaube als Dienstleistung

Auch dann, wenn das Opfer lügt? Wenn es prügelt, raubt und zusticht? Auch dann, sagt die Kirche, denn das Gebot der Nächstenliebe gilt ausnahms- und bedingungslos. Auch Terroristen, mahnt uns Margot Käßmann, ebenfalls Ratsvorsitzende a.D., sollten wir mit Liebe und Gebet begegnen. Tatsächlich hat der zuständige Bischof den Mord von Kandern, einer pfälzischen Kleinstadt, in der ein Flüchtling seine ungetreue Freundin kurzerhand abgestochen hatte, zum Anlaß genommen, vor einem Rückfall in die Barbarei zu warnen. Er zielte damit aber keineswegs auf den Mörder, sondern auf die Demonstranten, die den Kerl nach Hause schicken wollten. Die Kirchenleitung hält das für unchristlich. Ein Flüchtling bleibt für sie auch dann der Nächste, wenn er zusticht.

Die Ethik der Bergpredigt ist anspruchsvoll. Mit ihr sei nicht zu spaßen, hatte Max Weber, religiös eher unmusikalisch, den frommen Leuten, die sich so gern auf sie berufen, hinter die Ohren geschrieben. „Ganz oder gar nicht“ gelte für diese Art von Ethik, eben das sei ihr Sinn, wenn etwas anderes als Trivialitäten dabei herauskommen solle. Alle großen Moralisten, angefangen bei Sokrates über Franz von Assisi bis hin zu Mahatma Gandhi, haben das gewußt und ihre Lehrsätze durch ihre Taten beglaubigt. Tatsächlich lassen sich die rigorosen Ansprüche der Bergpredigt nur durch das Beispiel vermitteln; nur durch das Beispiel haben sie ja auch gewirkt.

Vor Gott gibt es keine halben Sachen

Albert Schweitzer, der nach Lambarene, und Mutter Teresa, die nach Kalkutta gegangen sind, haben das in jüngster Zeit noch einmal in Erinnerung gerufen. Aber welches Beispiel gibt der Kardinal, der die Messe auf einem importierten Flüchtlingsboot zelebriert? Welches die Bischöfin, die um die halbe Welt fliegt, um den Anbruch des Luther-Jahres auf irgendeiner Südseeinsel zu feiern? Welches der beamtete Kirchenfürst, der die Gläubigen dazu aufruft, für das von ihm betriebene, staatlich finanzierte Rettungsunternehmen kräftig zu spenden?

Mitleid, Zuwendung und Nächstenliebe lassen sich nicht organisieren, zumindest nicht restlos. Doch eben das versucht die Kirche. So wie die Bundeswehr Sicherheit produziert, wollen Caritas und Diakonisches Werk, die beiden marktbeherrschenden Unternehmen der Betreuungsindustrie, Nächstenliebe produzieren. Als die mit Abstand größten Arbeitgeber diktieren sie in diesem Massengeschäft Bedingungen und Preise. Ob man das christlichen Sozialismus oder sozialistisches Christentum nennen will, bleibt sich gleich, denn beides läuft auf den Versuch hinaus, Tugenden in bezahlte Dienstleistungen zu verwandeln. Wenn überhaupt, gelingt das aber nur in Grenzen; und dabei geht das Wichtigste vielleicht verloren.

Der barmherzige Samariter war weder Beamter noch Geschäftsmann

Der Samariter war kein Geschäftsmann, er nahm kein Geld, er zahlte sogar, um den Verletzten gesund zu pflegen. Die Kirche nimmt jedoch, und nicht zu knapp. Wie niemand sonst profitiert sie von den fünfzig Milliarden, die der Flüchtlingsindustrie allein aus dem Bundeshaushalt zufließen; weitere Steuern, Subventionen, Entschädigungen und Ausgleichszahlungen kommen noch hinzu. Wer diese Auswüchse kritisiert, die Kommerzialisierung beklagt und die Liebe vermißt, wird von den Kirchen als Fremdenfeind angeprangert und der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit bezichtigt.

Die Kirchen reden und handeln wie Staatsorgane, die katholische genauso wie die evangelische. Sie werden Teil des öffentlichen Dienstes. Das Eigene – der eigene Glaube, die eigene Sprache, die eigene Botschaft – geht dabei verloren. Der Papst hatte ja nicht unrecht, als er seinen Amtsbrüdern, den Mitgliedern der Deutschen Bischofskonferenz, vom Synodalen Weg mit der Begründung abriet, eine Evangelische Kirche gebe es doch schon in Deutschland: eine Kirche, die sich so nennt, ihren Ahnherren allerdings auf Abstand hält, weil sie ihn antisemitischer Gefühle verdächtigt.

Luther – der verstoßene Kirchengründer

Martin Luther hatte die Juden nicht vergessen, er hat um sie sogar geworben. Er konnte oder wollte aber nicht verstehen, daß sie sich der Frohen Botschaft auch dann noch verschlossen, als sie ihnen in unverfälschter, von scholastischen Spitzfindigkeiten und pfäffischer Rabulistik gereinigter Form dargeboten wurde; und reagierte, temperamentvoll wie er war, ziemlich heftig. Heinrich Heine, ein getaufter Jude, hatte ihm das nachgesehen und Luther als Zunge und Schwert des deutschen Geistes in den Himmel gehoben. Luthers Amtsnachfolger, die Bischöfe und Kirchenpräsidenten von heute, sind aber nicht so gnädig. Sie haben in Luther einen Vorläufer der Nazis entdeckt und binden ihm die Augen zu.

Als kulturelle Macht hat diese Kirche ausgedient, sie folgt dem Zeitgeist. Der ist bekanntlich woke und flüstert ihr ins Ohr, was überall zu hören ist. Für einen Glauben, der Berge versetzt, bleibt da kein Platz. Heinrich Bedford-Strohm, damals Ratsvorsitzender der EKD, und sein katholischer Amtsbruder, Reinhard Kardinal Marx aus München, waren doch nur ehrlich, als sie auf dem Jerusalemer Tempelberg das Brustkreuz, Symbol ihrer geistlichen Würde und Wappen ihres christlichen Glaubens, demonstrativ ablegten.

Gemeint war das als Friedensgruß, wahrgenommen wurde es aber als ein Kapitulationsangebot. Es sah so aus, als suche die Kirche den Glauben ohne den Einsatz, die Krone ohne das Kreuz. Doch wie auch immer man den Auftritt deuten mag, der Austrittswelle haben die beiden Kirchenfürsten mit ihrer eigenwilligen Geste neuen Schwung verliehen.

„Das Kalifat ist die Lösung!“

Im Wind der Wokeness verflüchtigt sich der Glaube zum Wohlfühlfaktor, der Erfolg im Beruf, an der Börse oder im Bett verspricht. Die Produkte der Evangelischen Publizistik sind voll davon. Sie berichten vom Kampf gegen Rechts, über den Inhalt von Schultüten und die Siegeszüge der LGBTQ-Gemeinden. Texte sind allerdings nur Nebensache.

Was zählt, ist das Geschäft, und das läuft über die Annoncen. Chrismon, das christliche Monatsmagazin, arbeitet nach demselben Geschäftsmodell wie die Apotheken-Umschau oder die Motorwelt, das Mitgliedermagazin des ADAC. Die Texte sind der Köder, der die Annoncen einfängt. „Mit uns erreichen Sie Millionen“, verspricht die Geschäftsführung, mit einem Top-Wert von 1,42 Millionen Lesern pro Ausgabe sei eine Schaltung bei Chrismon konkurrenzlos günstig. Die Kunden, auf die es die Kirche abgesehen hat, können anbieten, was sie wollen und werben, wofür sie wollen; wenn sie nur zahlen.

Daß es auch anders geht, zeigt der Islam. Der will nicht nur das Geld, der will auch den Glauben, die Unterwerfung, den Kotau, bei dem der Gläubige seinen Kopf auf den Boden schlägt. Seitdem der Islam auch in Deutschland heimisch geworden ist, haben die christlichen Kirchen dies eindrucksvolle Beispiel Tag für Tag vor Augen. Und das macht sie neidisch. „Alle Christen glauben an Allah!“ skandiert die Katholische Jugend, und die islamistische ruft zurück: „Das Kalifat ist die Lösung!“

Die heilige Kirche des Verfassungsschutzes

Ein frommer Mann wie Thomas Haldenwang denkt ähnlich. Er hält die Theokratie zwar nicht für die beste, aber doch für eine denkbare Antwort auf die Frage, wie man eine Gesellschaft so einrichtet, dass die Menschen nicht mit dem Messer in der Hand aufeinander losgehen.

Haldenwang war Presbyter in einer Gemeinde der alten Sektenstadt Wuppertal, kennt sich also aus. Wahrscheinlich hofft er, mit seinem Herzenswunsch, dem Krieg gegen Rechts, in einem Staat, in dem die Priester das Sagen haben, schneller voranzukommen als dort, wo es neben der geistlichen auch noch eine weltliche Macht gibt.

Warten auf die Apokalypse im Haus des Einen

Ist das die Wirklichkeit von morgen, die Gesellschaft der Zukunft? Ausgeschlossen ist in einem Land, das die Parole „Mehr Fortschritt wagen“ für ein Regierungsprogramm hält, gar nichts mehr. Im Haus des Einen, einem kastenartigen Gebäude, das gegenwärtig in Berlin entsteht, wollen die Fachleute fürs Interreligiöse den Trialog, das Gespräch zwischen Christen, Juden und Muslims, zur Dauereinrichtung machen.

Wie alle Theokraten halten sie die Gewaltenteilung, die Trennung von geistlicher und weltlicher Macht, für einen Anachronismus. Wer Unterschiede macht, diskriminiert ja, und Diskriminierung ist verboten, das Projekt Weltethos kommt ohne Grenzen aus. Wenn es soweit ist, wird in Berlin, der Hauptstadt der Bewegung, irgendein Guru auftreten und nach dem Ersten und dem Zweiten den Koran als Drittes Testament verkündigen. Dann hätte das Projekt sein Ziel erreicht.

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Dr. Konrad Adam, Jahrgang 1942, war Feuilletonredakteur der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und Chefkorrespondent der Welt. Adam beteiligte sich 2013 an der Gründung der Alternative für Deutschland (AfD) und war bis 2015 einer ihrer Bundessprecher.

JF 40/24

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