Ab Januar 1534 strömen holländische Wiedertäufer in Scharen nach Münster, das sich in einer schweren politischen Krise befindet. In der Vergangenheit haben Mißernten, Teuerungen und Geldentwertung den Mittelstand der Bischofsstadt ruiniert. Nun rebellieren die Handwerkergilden und das Volk unter Führung des Tuchhändlers Bernd Knipperdolling gegen das herrschende Patriziat, den Klerus und Fürstbischof Franz von Waldeck. Zusätzlich wird der städtische Aufruhr durch konfessionelle Konflikte verschärft. Knipperdolling und seine Gefolgschaft sind Protestanten, ihre Gegner Katholiken. Nur mühsam hat ein Vergleich im Vorjahr die religiösen Spannungen gekittet. Doch mit der Ankunft der Wiedertäufer ist es um den Burgfrieden geschehen. Die Neuankömmlinge führen Massentaufen durch und gewinnen dadurch viele Anhänger.
Die Wiedertäufer sind eine radikalreformatorische Sekte und werden in den Niederlanden verfolgt. Sie verwerfen die Kindstaufe und vertreten dagegen die Prinzipien von Bekenntnistaufe, Besitzlosigkeit und Gemeineigentum. Außerdem lehnen sie Eide, Flüche, Sakramente, Geldhandel und jede Art von Bilderverehrung ab. Ein besonderes Element ihrer Glaubensrichtung ist der Chiliasmus. Sehnsüchtig erwarten die Wiedertäufer einer Prophezeiung nach im Neuen Jerusalem die Niederkunft Christi und die Apokalypse, der ein tausendjähriges Friedensreich folgen soll.
Und dieses Neue Jerusalem ist nach Auffassung der Wiedertäufer jetzt Münster. Die Offenbarungen der Wiedertäufer verunsichern ihre Feinde. Als Erstes verlassen Kleriker und Patrizier die Stadt, der ein grausames Schicksal bevorsteht. Denn Fürstbischof Franz von Waldeck sieht dem Treiben der Wiedertäufer nicht tatenlos zu, die bei den Ratswahlen im Februar sogar die Mehrheit erreichen. Er marschiert mit einem Söldnerheer nach Münster, um die Irrgläubigen zu zähmen. Gleichzeitig macht sich Jan Matthys, Bäcker aus Haarlem und Prophet der Wiedertäufer, auf den Weg ins Neue Jerusalem, das er am 24. Februar 1534 erreicht.
Wiedertäufer wagen den Ausfall gegen das Söldnerheer
Matthys ist radikal. Bereits am ersten Tag seiner Ankunft entfacht er einen Bildersturm, dem sämtliche Kirchen und Pfarreien Münsters zum Opfer fallen. Anschließend setzen die Wiedertäufer die Einführung der Gütergemeinschaft durch und vertreiben alle, die sich der Wiedertaufe verweigern. In der Zwischenzeit beginnt das fürstbischöfliche Heer, Münster zu umzingeln.
Die beginnende Belagerung bewirkt, daß sich die Wiedertäufer noch enger um den Endzeitpropheten scharen, der zu Ostern den Weltuntergang erwartet. Aber Matthys irrt sich. Die Welt geht nicht unter, was sein Prestige schwer erschüttert. Nun bleibt dem gescheiterten Propheten nur noch ein Ausweg: der Schlachtentod. An der Spitze einer kleinen Schar macht Matthys am Ostermontag einen Ausfall aus der Stadt, wobei er fällt.
Matthys’ Nachfolger als Prophet wird Jan Bockelson, auch Jan van Leyden genannt, ein ehemaliger Wirt und Bordellbetreiber. Unter ihm gerät die Herrschaft der Wiedertäufer vollends zur theokratischen Diktatur. Bockelson führt wichtige Neuerungen ein. Er macht das Prophetenamt verfassungsreif und ersetzt den bisherigen Stadtrat durch einen „Rat der zwölf Ältesten der Stämme Israels“. Ferner führt er die Mehrehe ein. Insgesamt befinden sich in der Stadt etwa 8.000 Personen, darunter 1.000 Kinder, 5.000 Frauen und 2.000 Männer. Da das Alte Testament besagt, daß ein Mann mehrere Frauen haben darf, werden auf Weisung Bockelsons die in Münster anwesenden Frauen zwangsverheiratet, wovon der neue Prophet im Lauf der Belagerung 16 ehelicht.
Ein neuer König für das Neue Jerusalem
Die Mehrehe führt zu einem Putschversuch gegen das Prophetenregime. Nur knapp gelingt die Niederschlagung des Umsturzes, der mit der Hinrichtung von 47 Aufrührern endet. Dem Machtkampf im Innern folgt ein letzter Triumph. Nachdem die Wiedertäufer Wochen später einen Sturmangriff des fürstbischöflichen Heeres abwehren, läßt sich Jan Bockelson im September 1534 unter großem Pomp zum König ausrufen. In der Folgezeit perfektionieren „König Jan“, Knipperdolling und Kanzler Krechting den theokratischen Terrorstaat, der nun jeglichen Widerspruch und Widerstand sofort mit dem Richtschwert eliminiert.
Die drakonischen Strafmaßnahmen können den Fall Münsters nicht mehr verhindern. Hunger treibt die Verteidiger in den Wahnsinn, am 25. Juni 1535 fällt das Neue Jerusalem durch Verrat. Im Blutrausch dringen die fürstbischöflichen Landsknechte in die Stadt ein und erschlagen 650 Wiedertäufer. Zusammen mit den wenigen männlichen Überlebenden geraten die meisten Frauen in Gefangenschaft. Andere werden hingerichtet.
Wiedertäufer-Käfige sind Mahnmal
Auch Jan van Leyden, Knipperdolling und Krechting werden gefangen und nach halbjähriger Kerkerhaft am 22. Januar 1536 auf dem Prinzipalmarkt vor dem Rathaus exekutiert. Das Blutgericht ist grausam. Der Henker reißt den Verurteilten mit rot glühenden Zangen das Fleisch von den Knochen, bis sie elendig verenden.
Nach der Hinrichtung läßt Franz von Waldeck die Leichen der Gerichteten in Eisenkäfigen aufrecht festbinden und zur ewigen Warnung vor jeglichem Aufruhr an den Turm der Lamberti-Kirche hängen, wo sie langsam verwesen. Später werden die ursprünglichen Eisenkäfige durch Repliken ersetzt. Dank des schaurigen Gedächtniskultes gelten die Wiedertäufer-Käfige von Münster noch heute als Mahnmal eines religiösen Massenwahns, der sich in einer Dystopie entlud, die erbarmungslos in Blut ertränkt wurde.
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Quellenlink : Religiöser Massenwahn: Religiöser Massenwahn Der Untergang des Neuen Jerusalem der Wiedertäufer