Politiker auf Stimmenfang: Politiker auf Stimmenfang Sozialpolitik wird zum Glücksspiel mit der Gleichheit

Regelmäßig prangern Politiker, Meinungsmacher und Nichtregierungsorganisationen die materielle Ungleichheit an und stellen diese als größtes Problem unserer Zeit dar. Mit steigender Ungleichheit wachse die Gefahr sozialen Unfriedens, wird behauptet. Als Gegenrezept wird dann jeweils eine Politik der Zwangsumverteilung vorgeschlagen. Entscheidend für die wahrgenommene Gerechtigkeit und den sozialen Frieden in einer Gesellschaft sind aber nicht die Einkommens- und Vermögensgleichheit, sondern die soziale Mobilität: Gibt es die Möglichkeit des beruflichen Aufstiegs bei guten Leistungen und gewinnbringenden Ideen?

Diese soziale Durchlässigkeit wäre in einem wahrhaft freien Markt gegeben: Es ist mitnichten davon auszugehen, daß sich immer die gleichen Leute und Familien an der Spitze befinden würden, wie das etwa im Feudalismus oder im Sozialismus dank gesetzlichen Privilegien der Fall war. Die Fluktuation bei den Wohlhabendsten wäre vermutlich enorm. Jeder, der der Allgemeinheit einen Nutzen stiftet, könnte sich in der Einkommens- und Vermögenshierarchie emporarbeiten, solange Märkte offen und nicht für Neueinsteiger abgeschottet sind. Die daraus folgende Einkommens- und Vermögensverteilung wäre deshalb gerecht, weil es den individuellen Beitrag zum Allgemeinwohl widerspiegeln würde.

Natürlich gibt es auch Leistungen wie die familieninterne Kinderbetreuung, die nicht direkt monetär entgolten werden. Der Lohn solcher Arbeiten besteht in der lebenslangen psychischen Befriedigung, die die Betroffenen daraus ziehen. In den meisten Fällen sorgt außerdem der Familienverbund dafür, daß die Betroffenen auch indirekt für ihre Arbeit entschädigt werden, zum Beispiel in Form benötigter Güter wie Essen, ein Dach über dem Kopf, Kleider und so weiter.

Wer die Freiheit opfert, um Gleichheit herzustellen, verliert beides

Ungerecht ist die Einkommens- und Vermögensverteilung dann, wenn sie durch staatliche Einmischung in eine freiwillige zwischenmenschliche Interaktion verfälscht wird. Wenn jemand etwa seinen Reichtum nur deshalb erlangt oder behauptet, indem er seine Konkurrenz durch regulatorische Privilegien auszustechen vermag (zum Beispiel Überregulierung in einer bestimmten Branche, damit sich nur noch Großkonzerne die benötigten Compliance-Abteilungen leisten können) oder weil er ein besonders privilegierter Nettosteuerempfänger ist, dürfte dies von der breiten Masse kaum als „gerecht“ taxiert werden.

Denn dabei handelt es sich um ein „unverdientes“ Einkommen, das deshalb zustande kommt, weil die Spielregeln zu eigenen Gunsten abgeändert wurden. Das ist in etwa so, wie wenn bei einem Fußballspiel eine Mannschaft mit einer 3:0 Torführung ins Spiel starten dürfte, die Abseitsregel nur für den Gegner gilt und dieser nur mit zehn Spielern antreten dürfte.

Interessanterweise zeichnen sich wirtschaftlich freie Länder nicht nur durch einen allgemein höheren Lebensstandard für alle Schichten aus. Sie haben auch einen geringeren Gini-Koeffizienten – mit anderen Worten: Die tatsächlichen Einkommens- und Vermögensunterschiede sind wesentlich geringer als in wirtschaftlich unfreien Ländern. Wem also materielle Ungleichheit ein Dorn im Auge ist, der muß sich für ein System freier Märkte einsetzen.

Wer die Wirtschaftsfreiheit opfert, um Vermögens- und Einkommensgleichheit herzustellen, wird am Ende beides verlieren: die Freiheit und die Gleichheit. Denn erstens vermag nur ein totalitäres System mit unmenschlichen Zwangseingriffen in sämtliche Lebensbereiche hinein annähernd eine ökonomische Gleichheit herzustellen, wobei es dann immer auch noch eine politische Klasse geben wird, die über besondere Privilegien verfügt, wie wir aus all den sozialistischen Experimenten wissen.

Lord Actons Diktum gilt auch nach fast 200 Jahren noch

Zweitens verleihen die dazu notwendigen Kompetenzen der Staatsgewalt eine problematische Macht, welche eine neue Ungleichheit begründet: nämlich jene zwischen staatlichen Herrschern und nicht-staatlichen Untertanen. Eine derart ausgestaltete politische Ungleichheit, die sich dann in einer Ungleichheit der Menschen vor dem Gesetz manifestiert, ist viel gefährlicher für den gesellschaftlichen Frieden als eine ökonomische Ungleichheit, weil sie einigen wenigen leichtfertig die Schalthebel der Macht in die Hände legt. Der Historiker Lord Acton (1834–1902) brachte das Kernproblem auf den Punkt: „Macht korrumpiert, und absolute Macht korrumpiert absolut.

Materielle Ungleichheit ist eine menschliche Realität und Konstante, mit der wir uns abfinden müssen. Viel wichtiger als die materielle Gleichheit ist das absolute Wohlstandsniveau. Entscheidend ist, daß die Menschen der Armut entkommen, keine materielle Not leiden müssen und ihre wichtigsten Bedürfnisse befriedigen können. Dies läßt sich nur durch eine freie Wirtschaftsordnung erreichen.

Nun gibt es jene, die zwar die sozialistische Gleichheit im Ergebnis ablehnen, sich aber auch nicht auf eine liberale Gleichheit vor dem Gesetz beschränken wollen, gemäß welcher alle unabhängig von Hautfarbe, Religion, Geschlecht, Gesinnung et cetera gleich behandelt werden. Sie plädieren anstatt dessen für eine Form der Chancengleichheit. Demnach sollen alle Menschen über die gleichen Startbedingungen verfügen, damit sie nicht schon mit Nachteilen in den Wettbewerb mit anderen treten müssen.

Dilemmata der Chancengleichheit

Verfechter der Chancengleichheit können aber zentrale Fragen nicht befriedigend beantworten. Beispielsweise: Bis zu welchem Grad, an welchem Zeitpunkt in ihrem Leben und in bezug auf was müssen Menschen gleich sein, damit die propagierte Chancengleichheit erfüllt ist? Angenommen, zwei Jugendliche im Alter von 18 Jahren wollen Profi-Basketballspieler werden, der eine 1,60 Meter, der andere 2,00 Meter groß. Müßte man hier nun, um Chancengleichheit herzustellen, dem größeren Jungen 40 Zentimeter seiner Körpergröße wegoperieren?

Bei diesem vielleicht absurd erscheinenden Beispiel mögen die meisten abwinken und die Diskussion stattdessen dahingehend umlenken, daß es vor allem um das Geld ginge. Ungerecht sei es, wenn jemand vom Elternhaus aus mit mehr Mitteln ausgestattet sei, um so zum Beispiel ein gutes Studium in Angriff zu nehmen, was jemand aus der Unterschicht nicht könne. Deshalb habe der eine dann bessere Berufsaussichten als der andere. Doch hier stellen sich unweigerlich Folgefragen: Warum dieser rein materialistische Fokus auf das Geld? Hat nicht der 40 Zentimeter höhergewachsene Basketballspieler auch bessere Berufsaussichten in der Basketballbranche? Warum rechtfertigt der eine Fall einen Zwangseingriff des Staates und der andere nicht?

Um das Dilemma noch verständlicher zu machen, wollen wir uns nun vorstellen, daß der 40 Zentimeter höhergewachsene Basketballspieler talentiert sei, aus der Unterschicht komme und sehr liebevolle Eltern habe, die ihn enorm mit ihrer emotionalen Unterstützung gefördert hatten. Dem Kleineren auf der anderen Seite fehlt es an Talent: Er hatte zwar keine Liebe in seiner Kindheit erfahren, weil die Eltern früh gestorben sind, er konnte aber auf eine große Erbschaft zurückgreifen.

Abwehrrechte gegen den Staat sind so wichtig wie nie

Wie in aller Welt kann hier nun ein rein materialistischer Ansatz der Chancengleichheit so etwas wie Gerechtigkeit herstellen, indem es dem ohnehin schon unbegabten, kleingewachsenen Spieler auch noch die Hälfte der Erbschaft an den talentierten Großwüchsigen zwangsumverteilt? Kann man Chancengerechtigkeit tatsächlich herstellen, indem man sich auf plumpe Zahlen wie Einkommen oder Vermögen fokussiert? Ist ein Konzept der Chancengleichheit, das sich auf materielle Faktoren einschießt, nicht oberflächlich und ungerecht?

Andererseits ist eine Chancengleichheit, die alle relevanten Faktoren mit einschließen will, unpraktikabel und totalitär. Denn zur Überwachung aller bedeutenden Charakteristiken müßte man die Menschen totalüberwachen: Wie viele Liebesbekundungen und welche Förderung bekommen sie von ihren Eltern? Wie gut sind ihre Lehrer? Was bekommen sie wann zu essen? Die Kriterien müßten dann willkürlich abgewogen und Ausgleichsmaßnahmen beschlossen werden.

Die Chancengleichheit als politisches Postulat ist daher nichts weiter als unreflektierte Träumerei. Wenn Anspruchsrechte durchgesetzt werden sollen, also ein Anspruch auf bestimmte Güter und Dienstleistungen, die sich jemand nicht aus eigener Kraft leisten kann, dann geht das nur, indem jemand anderem diese Dinge unter Androhung oder Anwendung von Gewalt weggenommen werden. Je mehr Anspruchsrechte gesetzlich durchgesetzt werden sollen, desto akuter wird dieses Problem des gesellschaftlichen Raubs und desto stärker müssen Abwehrrechte – also die Freiheit im ursprünglichen Sinne – verletzt werden. Wer unschuldigen, rechtschaffenen Bürgern gewaltsam etwas wegnimmt, ist im naturrechtlichen Sinne ein Krimineller. Wer eine derart verbrecherische Politik als „freiheitlich“ deklariert, versteht entweder die Sachlage nicht oder täuscht die Öffentlichkeit bewußt über seine wahren Absichten.

Die liberale Freiheitsidee

Dabei geht es nicht darum, daß Gegner des „Rechts auf Bildung“ oder des „Rechts auf Medizin“ anderen Menschen Bildung und Medizin vorenthalten wollen – Gott, bewahre. Gegnern von solchen sozialistischen Anspruchsrechten geht es vielmehr darum, den Kerngehalt der Freiheit zu schützen – nämlich die Abwehrrechte.

In der liberalen Vision gibt es zwar keine staatlich durchsetzbare Garantie, daß den Bedürftigen geholfen wird. Die Zahlen zeigen allerdings, daß freiwillige Beiträge an Hilfswerke gerade in den freiheitlichen Ländern am höchsten sind und den Bedürftigen sehr wohl geholfen wird, auch wenn man diejenigen, die die Hilfe leisten, nicht mit staatlichen Zwangsmaßnahmen bedroht.

Die liberale Freiheitsidee ist folglich ethisch, ökonomisch und im bezug auf die Unterstützung der Schwachen dem absurden sozialistischen Freiheitsversprechen in hohem Grade überlegen.

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Olivier Kessler, Jahrgang 1986, ist Direktor des Liberalen Instituts Zürich. 2023 erschien sein Buch „64 irreführende Politikbegriffe“. Zuletzt schrieb er auf dem Forum über die Tücken der modernen Arbeitsmarktpolitik („Großbaustelle Arbeitsplatz“, JF 26/24).

JF 39/24 

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