Nationale Identitätsbildung: Nationale Identitätsbildung Preußen und Dänemarks Ringen um die unstete Nordgrenze

„Die schleswig-holsteinische Frage haben eigentlich nur drei Männer wirklich verstanden: Einer war ich, der andere Otto von Bismarck und den dritten Namen – habe ich vergessen.“ Dieser Ausspruch wird in verschiedenen Fassungen dem britischen Regierungschef Henry Lord Palmerston zugeschrieben. Und in der Tat stehen die deutsch-dänischen Wirren seit Mitte des neunzehnten Jahrhunderts für ein besonders kompliziertes Kapitel des vielfach zu beobachtenden Übergangs einer noch feudal geprägten Rechtsordnung und Grenzziehung zu einer neuen, die sich den nationalen Identitäten verpflichtet fühlte.

Nach Meinung des Zeitgeistes war sie im Zweifel durch „Volksabstimmung“ zu ermitteln. Wie fragwürdig, schwierig und aus politischen Gründen unfair diese Methode im Detail angewandt werden würde, wurde noch unterschätzt. In Schleswig jedenfalls sollte der Weg zur Abstimmung viele Jahrzehnte dauern.

Die Ausgangslage gestaltete sich schwierig. Zwischen dem noch aus dem Mittelalter stammenden Grundsatz der Herzogtümer Schleswig und Holstein „auf ewig ungeteilt“ zu sein, der juristischen Tatsache, daß das eine davon zum Deutschen Bund gehörte und das andere nicht, der europaweit wachsenden Begeisterung für nationale Selbstbestimmung und den Zwängen aktueller Machtpolitik ließ sich um 1848/49 kaum ein friedlicher Ausweg finden. Dazu kamen die innenpolitischen Fragen in Dänemark wie in Deutschland, wo die Frage „Schleswig-Holstein“ jeweils noch einmal ein eigenes identitätsstiftendes Thema für die Nation bildete.

Dänemark träumte von der Grenzbehauptung

In Deutschland hatte das vor allem Auswirkungen auf den Ruf der Paulskirchen-Revolution von 1848. Als damals die in Frankfurt versammelte nationale Öffentlichkeit nach einem Eingreifen gegen die dänischen Herrschaftsambitionen im Norden schrie, konnte das erste und bisher einzige gesamtdeutsche Parlament keine solche Intervention durchsetzen. Die großen Bundesstaaten wie Preußen und Österreich verweigerten sich einer parlamentarischen Kontrolle und führten im Norden eine eigene Politik.

In Dänemark andererseits träumte die Nation nach zahlreichen territorialen Verlusten an anderer Stelle davon, wenigstens gegenüber Deutschland langfristig die inzwischen durch die demographische Entwicklung anachronistisch gewordene Süd-Grenze an der Eider zu behaupten. Die konnte zwar auf eine jahrhundertelange Tradition als eine der ältesten Grenzen in Europa zurückblicken, verlief aber nun einmal mitten durch die „ungeteilten“ Herzogtümer und außerdem sehr weit südlich der bereits damals aktuellen deutsch-dänischen Sprachgrenze.

Am Ende der ersten Phase der Auseinandersetzung stand 1852 das sogenannte Londoner Protokoll. Da die Frage der dänischen Verhältnisse in Zusammenhang mit der Kontrolle der Ostseeausgänge die ganz große europäische Politik berührte, hatte sich auch Großbritannien eingeschaltet und zur Konferenz in der eigenen Hauptstadt gebeten. An deren Ende stand ein Kompromiß, den genauer zu erörtern die Kapazität eines Zeitungsbeitrags deutlich übersteigt, in dessen Rahmen jedoch bereits damals verschiedene Modelle einer Volksabstimmung verhandelt wurden, einstweilen noch folgenlos.

Deutsche Großmächte mischen sich ein

Die nächste Etappe des Konflikts läutete dann etwa zehn Jahre später Dänemark ein, das im Herbst 1863 eine „liberale“ Verfassung verabschiedete, die Schleswig aber entgegen der Londoner Absprachen nun faktisch als Teil des dänischen Staatsgebietes ansah. Dies wiederum rief diesmal nicht nur die deutsche Öffentlichkeit auf den Plan, sondern mit Österreich-Ungarn und einem Preußen, in dem inzwischen Otto von Bismarck die Leitung der Geschäfte übernommen hatte, auch die beiden deutschen Großmächte der Zeit.

Eine weitere Londoner Konferenz im Frühjahr 1864 blieb ein ergebnisloser Schlichtungsversuch. Die Sache wurde diesmal auf dem Schlachtfeld ausgefochten. Sie endete damit, daß der dänische König im Frieden von Wien im Herbst 1864 seine sämtlichen Rechte „in Schleswig, Holstein und Lauenburg“ ohne Wenn und Aber abtreten mußte, also auch ohne Ansprüche auf eine Volksabstimmung. Zugleich wurde durch Gebietsaustausch eine moderne, geschlossene deutsch-dänische Grenze geschaffen.

Volksabstimmung war Zugeständnis an französischen Kaiser

Wie wenig das Thema Volksabstimmung allerdings vom Tisch war, zeigte sich keine zwei Jahre später, als Österreich und Preußen nun ihrerseits einen finalen Waffengang um die eigene Position in Deutschland ausfochten. Das siegreiche Preußen schloß Österreich politisch aus Deutschland vollständig aus und erreichte dessen Anerkennung sämtlicher Gebietsveränderungen, die Preußen nördlich der Main-Linie vorzunehmen gedachte. Dazu gehörte beispielsweise die Einkassierung des „Königreichs Hannover“ als künftige preußische Provinz. Im Weiteren trat nun auch der Kaiser von Österreich in diesem Frieden von Prag seine erst vor kurzem erworbenen Rechte in Schleswig-Holstein ab.

Allerdings enthielt die entsprechende Passage des Friedensvertrags bezüglich Dänemarks eine einschränkende Formulierung. Der Kaiser von Österreich übertrage seine Rechte „mit der Maßgabe, daß die Bevölkerungen der nördlichen Distrikte von Schleswig, wenn sie durch freie Abstimmung den Wunsch zu erkennen geben, mit Dänemark vereinigt zu werden, an Dänemark abgetreten werden sollen“.

Da war sie nun also erstmals in einem Vertrag vorgesehen, die deutsch-dänische Volksabstimmung. Im Vorfrieden von Nikolsburg, der ansonsten fast wortgleich mit dem letztlichen Friedensvertrag ausfiel, war davon noch keine Rede gewesen. Der Grund für die Neuformulierung wird üblicherweise im französischen Einfluß gesehen. Napoleon der Dritte, Kaiser der Franzosen, verfolgte eine etwas wirre Politik, überall in Europa die nationale Selbstbestimmung zu fördern. Besonders in Italien hatte er zur Staatsbildung erheblich beigetragen, trug sich andererseits aber mit Annexionsplänen nicht nur für Belgien, sondern auch für das deutsche Rheinland, was mit der Selbstbestimmung der dortigen deutschen Bevölkerung nun zweifellos nicht vereinbar war.

Es war kompliziert

Für die nördlichen Gebiete Schleswigs eine Volksabstimmung vorzusehen, sollte aus Sicht Bismarcks den Kaiser der Franzosen etwas freundlicher stimmen, hatte dieser es ansonsten doch versäumt, aus den innerdeutschen Kriegen territoriale Vorteile zu ziehen.

Zu dieser Volksabstimmung in Nordschleswig kam es nach 1866 aber nie. Bismarck scheint eine kleinteilige Abstimmung auf Gemeindeebene durchaus erwogen zu haben. Durchgeführt wurde sie nicht. Ab 1867 konnten die Dänen in Schleswig bei den Wahlen des Norddeutschen Bundes und später Reichstagswahlen kandidieren. Sie stellten im Wahlkreis Schleswig-Holstein I (Hadersleben, Tönning, Apenrade) bis 1914 auch regelmäßig einen nach damaligem Wahlrecht mit absoluter Mehrheit gewählten Abgeordneten im Reichstag. Nachdem es 1867 einmal zwei Abgeordnete gewesen waren, vergrößerte eine Änderung des Wahlkreiszuschnitts die dänische Mehrheit in diesem Wahlkreis und reduzierte deren Anteil weiter südlich, so daß nur 1881 noch einmal zwei Dänen gewählt wurden.

Die mit Österreich vereinbarte Volksabstimmung in Schleswig schaffte Bismarck 1878 eigens durch einen Aufhebungsvertrag mit Wien aus einer Welt, die sich inzwischen stark gewandelt hatte. Der Kaiser der Franzosen war längst Geschichte. Die früheren Kriegsgegner Deutschland und Österreich strebten auf einen Zweibund zu, der ein Jahr später geschlossen wurde, und Österreich ließ 1878 Truppen in Bosnien einmarschieren. Die Konstellationen des Ersten Weltkriegs begannen sich also anzudeuten.

Dessen Ergebnis brachte dann erneut die Volksabstimmung in Nordschleswig auf die politische Tagesordnung. So richtig fair verlief die Abstimmung auch diesmal nicht, wobei das Mittel einer geschickten Wahlkreiseinteilung nun gegen Deutschland eingesetzt wurde. Sie waren kompliziert, die deutsch-dänischen Beziehungen der damaligen Zeit.

JF 28/24

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