Machtverschiebung in BrüsselEU-Erweiterung: Die teuren Hausaufgaben

Vier Tage nach dem russischen Überfall beantragte die Ukraine die EU-Mitgliedschaft. Im Juni 2022 bekam der zweitgrößte Staat Europas den Kandidatenstatus. Und EU-Ratspräsident Charles Michel versprach nun im Spiegel: „Die Ukraine kann 2030 zur EU gehören“ – aber nur, „wenn beide Seiten ihre Hausaufgaben machen“, so der frankophone Belgier. Denn es stellt sich die Frage: Bleibt die EU handlungsfähig, wenn auch sechs weitere Balkanstaaten sowie Moldawien und Georgien beitreten und so aus 27 dann 36 EU-Mitglieder werden?

Die EU ist darauf nicht vorbereitet – weder politisch noch institutionell und nicht ökonomisch. Die Ukraine hat laut Internationalem Währungsfonds ein Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf von nicht einmal einem Achtel des EU-Durchschnitts. Die Türkei, deren Beitrittswunsch auf große Vorbehalte stößt, sowie Montenegro und Serbien kommen immerhin auf etwa ein Drittel des EU-Niveaus. Und „die Westbalkanländer etwa warten seit 20 Jahren auf den EU-Beitritt“, erklärte Michel. Daher wurde 2021 die „Konferenz zur Zukunft Europas“ von der Kommission, dem Europaparlament und dem EU-Rat ins Leben gerufen, deren 49 Vorschläge vorliegen (JF 23/22). Tendenz: Mehr Macht für Brüssel und die mediterranen Staaten.

Die Resonanz war mäßig, was auch an dem Vorstoß des EU-Parlaments für einen Verfassungskonvent lag. Auch im Ampel-Koalitionsvertrag ist von einem „verfassunggebenden Konvent“ die Rede, der „zur Weiterentwicklung zu einem föderalen europäischen Bundesstaat führen“ soll. Das wird von zahlreichen EU-Staaten abgelehnt. Wohl auch deshalb ergriffen Berlin und Paris anläßlich des 60. Jahrestages des Élysée-Vertrags die Initiative zu einer „unabhängigen“ Expertengruppe, die Lösungen mit dem Schwerpunkt „Erweiterung“ erarbeiten sollte.

Die Höchstzahl an EU-Abgeordneten soll beibehalten werden

Diese „Gruppe der Zwölf“ entstammt zu zwei Dritteln Institutionen, deren Existenz in hohem Maße von der EU und den beiden Regierungen abhängt. Insofern erstaunt es kaum, wenn die im September im Rat für Allgemeine Angelegenheiten (GAC) vorgetragenen Empfehlungen unter dem Titel „Sailing on High Seas – Reforming and Enlarging the EU for the 21st Century“ an die Vorschläge der Zukunftskonferenz von 2021 anknüpfen. Sie haben drei Zielrichtungen: besserer Schutz der Rechtsstaatlichkeit; Erhöhung der Handlungsfähigkeit der EU; Prozeß der Vertiefung und Ausweitung der EU.

Bei Rechtsstaatsverstößen sollen EU-Mittel einfacher zurückgehalten werden können, was aktuell Polen und Ungarn treffen würde. Vertragsverletzungsverfahren (Art. 7 AEUV) sollen durch eine Vier-Fünftel-Mehrheit statt einer „Einstimmigkeit minus eins“ leichter und schneller möglich sein. Die institutionellen Reformvorschläge sind vielschichtig. So soll die Höchstzahl von 751 EU-Abgeordneten (derzeit: 705; ab 2024: 729) beibehalten werden, was die Stimmrechte Deutschlands (unverändert 96) weiter reduzieren würde.

Die EU-Kommission würde entweder auf eine Rotation mit jeweils zwei Drittel der Staaten verkleinert werden oder nur die Hälfte der Kommissare erhalten Stimmrechte. Die „hierarchische“ Lösung würde eine Vertragsänderung notwendig machen. Ein wichtiger Punkt zum Erhalt der Handlungsfähigkeit ist auch die Ausweitung von Mehrheitsentscheidungen im EU-Rat der Staats- und Regierungschefs. So bietet die „Brückenklausel“ (Art. 48 Abs. 7 EU-Vertrag) bereits heute die Voraussetzung, daß der EU-Rat für bestimmte Bereiche einmalig und einstimmig eine qualifizierte Mehrheit für zukünftige Entscheidungen beschließen kann. Diese Klausel setzt aber die Zustimmung des Bundestages voraus. Zudem würde ein Opt-out (sich gegen etwas entscheiden) für Politikbereiche, die in die Beschlußfassung mit qualifizierter Mehrheit übertragen werden, ein Mitglied vor unerwünschter Anwendung schützen.

Deutschlands Stimme soll an Gewicht verlieren

Darüber hinaus sollen die Bedingungen für eine qualifizierte Mehrheitsentscheidung angepaßt werden. Diese setzt bislang die Zustimmung von 55 Prozent der Mitgliedstaaten voraus, die mindestens 65 Prozent der EU-Bevölkerung repräsentieren. Künftig sollen es jeweils 60 Prozent sein. Seit dem Brexit kommen die „Nordländer“ Deutschland, Niederlande, Österreich, die Balten, Dänemark und Schweden mit nur 30 Prozent der EU-Bevölkerung nicht mehr auf eine Sperrminorität. Demgegenüber könnten die mediterranen Länder nach der Änderung mit zusammen 43 Prozent zukünftig Entscheidungen blockieren.

Die „Gruppe der Zwölf“ empfiehlt zudem einheitliche Standards für die Europawahlen, eine Aufstockung des EU-Haushaltes und neue „Eigenmittel“ in der Voraussicht auf hohe „Zukunftsbedarfe“ wie den Wiederaufbau der Ukraine. Der wird bislang auf 300 bis 600 Milliarden Euro geschätzt. Ausdrücklich wird auf neue EU-Schulden in Anlehnung an den 807 Milliarden Euro schweren und kreditfinanzierten Corona-Fonds NextGeneration EU (NGEU) verwiesen, der nach bewährtem Muster als Ausnahme auf Basis des „Notstandsartikels“ 122 des AEU-Vertrags installiert wurde – zukünftig allerdings als reguläres „neues Eigenmittel“.

Abgestufte Integration auf Basis von vier konzentrischen Kreisen

Die Financial Times zitierte kürzlich aus einem internen EU-Papier, nach dem bei einem Beitritt von neun neuen Staaten der derzeitige EU-Haushalt (2021 bis 2027) um 21 Prozent auf 1,47 Billionen Euro anwachsen würde. Allein der Ukraine würden dabei 61 Milliarden Euro aus dem EU-Kohäsionsfonds zustehen – Tschechien, Estland, Litauen, Slowenien, Zypern und Malta würden hingegen nicht mehr für solche Subventionen in Frage kommen. Die Ukraine wäre zudem mit 41,1 Millionen Hektar Anbaufläche der mit Abstand größte Empfänger von EU-Agrarsubventionen.

Ein Ausweg könnte die abgestufte Integration mit vier konzentrischen Kreisen sein: ein innerer Verdichtungskreis, die EU-27, assoziierte Mitglieder und die Europäische Politische Gemeinschaft (EU plus 20 Anrainerstaaten), die auf Emmanuel Macron zurückgeht. Ein „Rückbau“ (Desintegration) ist für derzeitige EU-Mitglieder jedoch ausgeschlossen. Der Verzicht auf einen Verfassungskonvent soll die Umsetzung der neuen Empfehlungen erleichtern. Neben der Brückenklausel böten eine Ermächtigung zur Vertragsabrundung (Art. 352 AEU-Vertrag), ein Rahmenvertrag über die Erweiterung oder die einzelnen Beitrittsverträge entsprechende Möglichkeiten. Für Deutschland bedeutet all das aber: mehr finanzielle Nettolasten und weniger Einfluß zugunsten einer gestärkten EU-Zentrale.

JF 42/23

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