Einem „Irrenhaus“ gleicht die Stadt: „Im Osten residiert das Verbrechen, im Zentrum die Gaunerei, im Norden das Elend, im Westen die Unzucht, und in allen Himmelsrichtungen wohnt der Untergang.“ Was klingt wie eine treffsichere Beschreibung der heruntergekommenen Spreemetropole unserer Tage stammt aus Fabian. Den 32jährigen Philologen Dr. Jakob Fabian benutzte Erich Kästner als Sprachrohr, um in Worte zu fassen, wie er am Ende der Weimarer Republik auf die deutsche Hauptstadt blickte.
Fabian ist die Hauptfigur des gleichnamigen, 1931 erschienenen Romans mit dem Untertitel „Die Geschichte eines Moralisten“. Eigentlich sollte er „Der Gang vor die Hunde“ heißen. Tatsächlich führt Dr. Fabian ein frivoles und alles andere als moralisches Lotterleben. Sein Autor hält damit einer Gesellschaft, die er für ähnlich kaputt erachtet wie kritische Geister das Deutschland der Gegenwart, den Spiegel vor. Und das geht nur mit einer satten Portion Ironie.
Der in kurze Episoden zerfallende Roman über den jungen Fabian, der sich im Berlin der Weltwirtschaftskrise Ende der zwanziger Jahre des vorigen Jahrhunderts als Schreibkraft und Werbetexter durchschlägt und sich gemeinsam mit seinem Freund Labude, ebenfalls Philologe in prekärer Existenz, laufend mit fehlendem Anstand und mangelnder Mitmenschlichkeit konfrontiert sieht, gilt als das herausragende Prosawerk des gebürtigen Dresdners.
Kästner-Buch wurde Zeichentrickfarbfilm-Vorlage
Doch die frivole Erzählung ist es wohl eher nicht, woran als erstes denkt, wer den Namen Erich Kästner hört. Eher fallen einem seine Unterhaltungs- und Kinderbücher mit ihren rundum kinotauglichen Stoffen ein. Mit ihnen ist der Name Kästner ebenso untrennbar wie epochenübergreifend verbunden. Die ihnen innewohnende Lustspiel-Dramaturgie sorgte dann auch – wenig überraschend – dafür, daß „Emil und die Detektive“ (1928), „Pünktchen und Anton“ (1930), „Das fliegende Klassenzimmer“ (1933), „Drei Männer im Schnee“ (1934) und „Das doppelte Lottchen“ (1949) nicht nur zu großen Buch-, sondern auch, und zwar jeweils gleich mehrfach, zu Kinoerfolgen wurden. Die fabelhafte „Konferenz der Tiere“ (1949) diente sogar als Vorlage für den ersten abendfüllenden Zeichentrick-Farbfilm deutscher Provenienz.
Rekordhalter in puncto Verfilmungen ist „Das doppelte Lottchen“. In drei deutschen Produktionen schaffte die Komödie es auf die Leinwand: 2007 kam zur ersten Filmfassung von 1950 und Joseph Vilsmaiers moderner Übertragung „Charlie & Louise – Das doppelte Lottchen“ (1994) noch eine niedliche Zeichentrickversion hinzu. Außerdem gibt es einen TV-Film von 2017, und fürs US-Kino wurde der Stoff auch mehrfach adaptiert.
Es ist ein Charme, dem fast jeder erliegt
Die zeitlos geniale Ausgangsidee, daß zwei Zwillinge, die wegen der Scheidung ihrer Eltern getrennt voneinander aufwachsen – Luise in Wien, Lotte in München –, einander in einem Ferienheim zufällig begegnen und daraufhin einen Plan schmieden, die zerrissene Familie wieder zu vereinen, funktioniert immer und überall und kommt in jeder Variante so frisch und fröhlich daher, daß man meint, sie zum ersten Mal zu sehen.
Es ist ein Charme, dem fast jeder erliegt, der den berühmten Kästner-Geschichten entströmt. „Etwas wundervoll Beschwingtes weht durch diese Bücher, alles steht sauber und klar an seinem Platz“, charakterisierte sein Zeitgenosse Hans Fallada 1932 in der Zeitschrift Die Literatur das Werk seines Kollegen, „und die Moral, die es gibt, ist eine anständige, moralinfreie Moral, die in jedes Milieu paßt“.
Der in Ungnade gefallene Autor durfte Drehbücher schreiben
Mit ihrer gewinnenden Heiterkeit bilden Kästners Kinderbücher einen verblüffenden Kontrast zu der Zeit, in der sie entstanden sind. Sein großes Talent fürs Leichte mußte auch NS-Propagandachef Goebbels anerkennen: Mit einer Sondergenehmigung durfte der in Ungnade Gefallene das Drehbuch zum großen „Münchhausen“-Film (1943) mit Hans Albers schreiben – unter dem (freilich nirgends auftauchenden) Pseudonym Berthold Bürger. Ein Name wie aus einem seiner komischen Romane.
Es war bereits der zweite Weltkrieg, den der am 23. Februar 1899 in Dresden zur Welt gekommene Dichter ab 1939 durchlitt. Im Ersten Weltkrieg hatte er als 17jähriger bei der Artillerie gedient und die ganze Wucht der durch die Industrialisierung auf eine vollkommen neue Ebene gehobene Technik des Tötens zu spüren bekommen. Für sein späteres literarisches Schaffen sollte das Folgen haben.
Nach dem Krieg studierte er Germanistik, Geschichte, Philosophie und Theaterwissenschaften in Leipzig, Rostock und Berlin. Mit einer Arbeit über Friedrich den Großen und die deutsche Literatur wurde er 1925 promoviert und landete danach als Redakteur bei der Neuen Leipziger Zeitung. 1927 wechselte er in die deutsche Hauptstadt, wo er sich als freier Schriftsteller verdingte. Er schrieb Kritiken für die renommierte Vossische Zeitung und Carl von Ossietzkys Weltbühne. Mit Essays und den für ihn so typischen pointiert-sarkastischen Texten fürs Kabarett gelang es ihm, die Aufmerksamkeit eines wachsenden Publikums zu gewinnen.
Hermann Kesten nannte ihn „den lyrischen Reporter seines Zeitalters“
Vor allem trifft das aber auf seine Gedichte zu, die bald in Sammelbänden erschienen. Den Anfang machte 1928 „Herz auf Taille“. Es folgten „Lärm im Spiegel“ (1929), „Ein Mann gibt Auskunft“ (1930), „Gesang zwischen den Stühlen“ (1932) und „Dr. Erich Kästners lyrische Hausapotheke“ (1936). Der Zeitmode der Neuen Sachlichkeit verpflichtet, mit der die Kunst sich gesellschaftliche Relevanz verordnete, geht es darin oft um Alltägliches. Sozialkritisch werden die Nöte des einfachen, durch die Krisen der Zeit geplagten Bürgers aufgegriffen.
Der Krieg und die stringent antimilitaristische Haltung des linksliberalen Autors („Kennst Du das Land, wo die Kanonen blühen?“) sind ebenfalls Dauerbrenner. Sein Kollege Hermann Kesten nannte ihn „den lyrischen Reporter seines Zeitalters“, Kästner selbst seine Gedichte jedoch im Gestus der Untertreibung simple „Gebrauchslyrik“. Während sein zeitkritischer Roman „Fabian“ auf Verfilmungen wie jüngst die von 2021 mit Tom Schilling in der Titelrolle angewiesen ist, um dem Vergessen entrissen zu werden, hat Kästners oft augenzwinkernde Lyrik, die ihn in der Spätphase der Weimarer Republik zu einem der beliebtesten deutschen Literaten seiner Zeit machte, wegen ihrer Lebensnähe die Zeiten überdauert.
Stets verweigerte der Sohn eines Sattlermeisters sich der ideologischen Verzweckung der Kunst und dem Pathos, in dem er das Hypnotische witterte, das Demagogen und Despoten groß macht. Nicht in der proletarischen Revolution sah der Moralist das Heil, sondern in menschlichem Anstand, der sich im Privaten zu realisieren und zu bewähren hatte, ehe er zu einer gesellschaftlichen Größe werden konnte. Miterleben zu müssen, wie sich nach Hitlers Machtergreifung genau das Gegenteil dieses Ideals wie Mehltau über das ganze Land zu legen begann, führte ihn in eine Haltung pessimistischer Resignation. „Linke Melancholie“ warf ihm im gleichnamigen Artikel Walter Benjamin vor, die nicht Position beziehe und daher in fruchtlosen Fatalismus münde.
Zweimal kam er in Gestapo-Gewahrsam
War es Fatalismus, der den Schriftsteller davon abhielt, sich im Gegensatz zu vielen seiner Kollegen ins Exil zu begeben? Oder wollte er einfach nur die geliebte Mutter Ida nicht im Stich lassen? Jedenfalls machte ihm das NS-Regime, das seinen „Fabian“ bei der Bücherverbrennung mit auf den Das-kann-weg-Haufen geworfen hatte, das Leben alles andere als leicht. Doch der zunächst in die Schweiz Abgewanderte entschied sich, seine Rolle als Zeitzeuge anzunehmen und in Deutschland zu bleiben.
In einem Epigramm verglich er sich mit einem schwer zu verpflanzenden Baum. Zweimal kam er in Gestapo-Gewahrsam. Seine Bücher mußte er wie viele seiner mit Berufsverbot belegten Kollegen im Ausland veröffentlichen. Er wählte die Schweiz. Passend dazu spielen die „Drei Männer im Schnee“ auch in den Alpen. Es folgten „Die verschwundene Miniatur“ (1935) und „Georg und die Zwischenfälle“ (1938).
Ab 1943 waren Kästners Schreibhände gebunden durch ein totales Verbot der literarischen Betätigung. Der Beharrliche überstand die dunklen Jahre, wurde nach dem Krieg in München Feuilletonchef der Neuen Zeitung, machte Kabarett an der von ihm mit gegründeten Schaubude und ab 1951 für Die kleine Freiheit. Für beide dichtete er auch. Sein letzter Lyrikband „Die 13 Monate“ erschien 1955.
In den 50er Jahren verarbeitete er die Hitlerzeit
Von 1957 bis 1962 war er Präsident des PEN-Zentrums der Bundesrepublik. 1957 erschienen seine Jugenderinnerungen „Als ich ein kleiner Junge war“. Die autobiographischen Notizen wurden 1961 mit „Notabene 45“ fortgesetzt. Ebenfalls 1957 wurde der trotz mehrerer Dauerbeziehungen lebenslang Unverheiratete mit dem renommierten Georg-Büchner-Preis ausgezeichnet.
In der letzten Lebensdekade wurde es ruhiger um den vielfach geehrten Poeten, der nach seinem Tod am 29. Juli 1974 selbst zum Namensgeber eines Literaturpreises wurde: Die Erich-Kästner-Gesellschaft in München ehrte mit dem Erich-Kästner-Preis Dichter wie Peter Rühmkorf (1979), Loriot (1984) oder Robert Gernhardt (1999). In diesem Jahr erhielt die in in unregelmäßigen Abständen vergebene Auszeichnung der österreichische Autor Wolf Haas.
1956 war für die Bühne „Die Schule der Diktatoren“ entstanden, uraufgeführt im Februar 1957 an den Münchner Kammerspielen. Was offiziell als „Komödie in neun Bildern“ bezeichnet wurde, war in Wahrheit eine bissige Satire auf das schier unermeßliche in der Menschheit schlummernde Potential, sich von Augenwischern, Hochstaplern und Politclowns für dumm verkaufen zu lassen. Entstanden selbstredend unter dem Eindruck der Hitlerjahre, handelt die Posse von einem mit eiserner Hand regierenden Diktator, der sich und seinem Volk eine Herrschaft aufs Lebenszeit verordnet hat.
Fabian und die Gesellschaft gehen vor die Hunde
In Wahrheit ist er aber schon lange tot. Seine Hofschranzen, die für jedes totalitäre Regime unerläßlichen Himmlers, Görings und Goebbels’, lassen vor den leichtgläubigen Augen eines auf Kurs getrimmten Volkes je nach Anlaß 14 unterschiedliche Marionetten auftreten, ausgebildet in der Schule der Diktatoren, der das Stück seinen Namen verdankt.
Man würde sich eine an die bundesrepublikanische Gegenwart angepaßte Bühnenfassung wünschen, in der Covid-19-Regime, Klimawahn und Gender-Verblödung karikiert werden. Aber wer würde das wagen? Man müßte schon so selbstmörderisch selbstvergessen sein wie Jakob Fabian, der Held des Romans, mit dem sein Autor warnen wollte „vor dem Abgrund […], dem sich Deutschland und damit Europa näherten“.
Mit dem schonungslosen Zeitdiagnostiker nimmt es nämlich ein böses Ende: Als er sich spontan zu einer hochmoralischen Rettungsaktion entschließt, muß er am eigenen Leib erfahren, wie fatal sich Treu und Redlichkeit in einer Zeit auswirken können, die aus den Fugen ist: Der Junge, den er vor dem Ertrinken retten wollte, schwimmt ans Ufer, Fabian geht, genau wie die Gesellschaft, die der Roman porträtiert, vor die Hunde.
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Quellenlink : Literatur: Literatur Erich Kästner, oder: Mit Anstand vor die Hunde gehen