Linke SozialwissenschaftIdeologische Armutszeugnisse

Die im links-grünen akademischen Milieu wurzelnde Quartalsschrift Politikum wendet sich im ersten Heft des Jahrgangs 2023 unter dem Titel „Armutszeugnisse“ einem alten, zuletzt wegen zünftiger Schlangentänze um Klima, Geschlecht, Migration & Diversity arg vernachlässigten Bekannten zu: der sozialen Frage, national wie international. Als federführende Redakteurin präsentiert die auf „Armut und Ungleichheit, Rechtsextremismus und Migration“ spezialisierte Politologin Ina Schildbach (TH Regensburg) dazu zehn Aufsätze und Interviews unter diesem Titel, der passender auch für den analytisch dürftigen Inhalt der meisten Beiträge nicht hätte gewählt werden können.

Denn wie beim Gros der längst nicht mehr als Herrschaftskritiker, sondern als Systemstützen agierenden bundesdeutschen Sozialwissenschaftler üblich, behindern politisch erwünschte und verinnerlichte Horizontverengungen den Blick auf das Ganze gesellschaftlicher Wirklichkeit. Darum gelingt Schildbach zum Auftakt lediglich eine grobe Skizze des thematisierten Phänomens: Im Globalen Süden nehmen Hunger und absolute Armut zu, während hierzulande wachsende relative Armut und Verarmungsprozesse bis in die Mittelschicht hinein zu registrieren sind. Corona-Pandemie und Ukraine-Krieg hätten diese Entwicklungen allenfalls verschärft.

Verschweigen und Ausblenden von Zusammenhängen

Trotzdem darf, abgesehen von ein paar vagen Hinweisen, der wahre Hauptverursacher von hoher Inflation und rasant gestiegenen Lebenshaltungskosten, die schwarz-gelb-grün-rote „Energiewende“ samt Atomausstieg, mit Schildbachs Diskretion rechnen. Während die ökodiktatorische Brüsseler und Berliner Klimapolitik, deren neoliberale Konturen als existenzvernichtender Armutstreiber sich mit der vom Gebäudeenergiegesetz faktisch verfügten Zwangssanierung von Abermillionen Eigenheimen und Wohnungen („Habeck-Pumpe“) abzuzeichnen beginnen (vergleiche dazu den JF-Essay „Geplante Not“) überhaupt durch Schildbachs Rost gefallen ist.

Auch der Sozialpädagoge Fabian Kessl (Uni Wuppertal), der sich der armutslindernden „Mitleidsökonomie“ der Tafeln, Suppenküchen und Kleiderkammern widmet, versteht sich auf die Kunst des Ausblendens. So ordnet er die „Tafelbewegung“, die es in der alten Bundesrepublik nur in Ansätzen gab, für die heute jedoch ein Heer von 60.000 ehrenamtlichen Helfern tätig ist, das weit über eine Million Bedürftige versorgt, zwar korrekt als Symptom des Staatsversagens ein. Wenn die Tafeln sich aus der Nothilfe im „besten Deutschland, das es je gab“ (Frank-Walter Steinmeier) zur fast selbstverständlichen Grundausstattung des erodierten Wohlfahrtsstaats wandeln konnten, dann habe sich eine bereits dank Bismarcks Sozialpolitik historisch überwunden geglaubte Praxis der Armutsbekämpfung neu etabliert.

Statt relativen Wohlstand für alle nur karitative Minimalversorgung

Den Urhebern und Nutznießern dieser „Rückkehr in vorwohlfahrtsstaatliche Zeiten“ schenkt Kessl allerdings nicht allzu viel Aufmerksamkeit, so daß er den Eindruck erweckt, hier walte die undurchschaubare Schicksalsmacht der Globalisierung. Immerhin erkennt er, daß sich mit diesem „System der Beschämung“ ein fundamentaler sozialpolitischer Paradigmenwechsel vollzieht.

Hatte der Bürger der Bonner Republik in der öffentlichen Infrastruktur des Bildungs-, Sozial- und Gesundheitsbereichs mindestens formal ein Anrecht auf Leistungen und Angebote, mutiert er in der Mitleidsökonomie tendenziell zum Bittsteller. Damit verschiebe sich, obwohl die wohlfahrtsstaatliche Armutsbekämpfung noch für einen nicht unerheblichen Teil der Bevölkerung fortbestehe, das Zentrum sozialstaatlicher Maßnahmen weg vom Ausgleich krasser ökonomischer Ungleichheit hin zu Programmen karitativer Minimalversorgung. Mit dem politisch gewollten Ziel, die „Prekarisierung von Lebenslagen zu zementieren“. Die Wiedereingliederung in die eigenständig existenzsichernde Erwerbstätigkeit des „Konsumbürgers“ sei daher für eine wachsende Zahl „ausgesteuerter“ und entmündigter Bezieher von Transferleistungen nicht mehr vorgesehen.

Soziologin Butterwegge lamentiert über Bildungsungleicheit

Mit einem Paradebeispiel für die Stiftung eines „Verblendungszusammenhangs“ (Theodor W. Adorno) wartet Carolin Butterwegges Aufsatz über „Familienarmut – Kinder der Ungleichheit und Herausforderungen der Schulen“ auf. Wie gewohnt lamentiert die Ehefrau von Christoph Butterwegge, dem emeritierten Papst der deutschen Armutsforschung, über Bildungsungleichheit in der kapitalistischen Bundesrepublik, wo ein Prozent der Bevölkerung über 35 Prozent des gesamten Volksvermögens verfügt.

Butterwegge promovierte 2009 über Armut von Migranten-Kindern und publizierte 2021, monothematisch fixiert zusammen mit ihrem Mann eine Streitschrift über „Kinder der Ungleichheit“. Nordrhein-Westfalen, so wettert die dort bei der Landtagswahl 2022 als Spitzenkandidatin der Partei Die Linke mit 2,1 Prozent der Stimmen grandios gescheiterte Diplom-Sozialarbeiterin, sei bei der Konzentration von Armut und Bildungsbenachteiligung „Problemregion Nr. 1 in Deutschland“.

Schuld daran ist für die unbelehrbare Verfechterin der Gesamtschule „das klassisch gegliederte, Strukturen von Ungleichheit reproduzierende Schulsystem“. Überdies durften Eltern in NRW seit 2008 die Grundschule frei wählen, so daß deutsche Kinder aus wohlhabenderen Familien „Brennpunktschulen“ mit hohem Ausländeranteil meiden könnten.

Ökonom propagiert, aus armen Staaten auszuwandern

Deutsche Kinder aus „ethnisch-kulturell aufgespaltenen Stadtteilen“, deren Bildungskarriere frühzeitig zerstört wird, weil ihnen der Familienetat ein solches Ausweichen verwehrt, sind für die Soziologin Butterwegge dann halt Opfer des – mittels Reichensteuer, Mindestlohn und Bürgergeld zu ändernden – „Systems“. Und nicht etwa jener unbegrenzten Massenzuwanderung, wie sie die Politikerin Butterwegge und ihre Partei unablässig fordern. Tätig ist diese Fachkraft übrigens ausgerechnet an der „Humanwissenschaftlichen Fakultät“ der Universität zu Köln.

Bestärkt werden für ihre Disziplin so typische Irrlichter wie Butterwegge von dem von Ina Schildbach befragten Branko Milanović (New York), der als „ein führender Ökonomen auf dem Feld sozialer Ungleichheit“ gilt. Milanović propagiert Auswanderung als „die einzige realistische Alternative“ für Menschen aus Staaten, die in der globalen Einkommenshierarchie ganz unten rangieren. Nur so glichen sie das Pech des falschen Geburtsorts aus. Es sei denn, ihr Land verbessert nach dem Vorbild Chinas seine Position in der Liga der „Haves and Have-Nots“ und „reißt die gesamte Bevölkerung mit“.

Das sei vor allem von afrikanischen Armenhaus-Staaten nicht zu erwarten, wie die Politologin Laura Seelkopf (München) prognostiziert. An ihrem Unvermögen, Steuersysteme zwecks effizienter Armutsreduktion aufzubauen, werde auch die 2015 proklamierte UN-Nachhaltigkeits-Agenda zerschellen, die verspricht, die Welt bis 2030 von Armut und Hunger zu befreien. Für die Lösung von Afrikas hausgemachten Armutsproblemen, die sie sich so nicht zu bezeichnen traut, sieht Seelkopf daher weiter den Globalen Norden in der Pflicht.

JF 21/23

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