Zu den großen Überraschungen seit Beginn der militärischen Auseinandersetzungen in der Ukraine gehört, daß der Westen völlig überrascht darauf reagierte, als Wladimir Putin und die russische Regierung am 24. Februar 2022 die Initiative ergriffen und in die Tat umsetzten, was zuletzt noch im Dezember 2021 angekündigt worden, war: daß eine konsequente Ausdehnung der Nato und der EU nach Osten für Rußland als Herausforderung und existentielle Bedrohung aufgefaßt und nicht weiter hingenommen werden könne.
Wladimir Putin argumentierte als politisch-historischer Realpolitiker, um zu erklären, warum es ihm geboten erschien, zu handeln, und zwar in einem für Rußland günstigen Moment. Der Westen ging nicht weiter auf seine Argumente ein und unterband jede Debatte darüber, warum der Frieden in Europa in Gefahr geriet. Putin wurde vielmehr sofort zum unberechenbaren Feind des Menschengeschlechtes erklärt und zur Inkarnation des Bösen dämonisiert. Mit Verbrechern verhandelt man nicht; sie müssen bestraft und vernichtet werden.
Der Westen verliert den Kampf gegen „the rest of the world“
Ein solches Verhalten verwirft Emmanuel Todd als unehrenhaft und als des Westens unwürdig in seiner illusionslosen Analyse des Westens, der nicht nur in der Ukraine und in Europa, sondern weltweit, wie er meint, einer Niederlage entgegeneilt. Sie bringe ihn endgültig um seine Selbstermächtigung, als Repräsentant der Menschheit und Verfechter der Menschenrechte überall eingreifen zu müssen, wo sich unzulänglich demokratisierte und autoritäre Elemente anmaßen, ihre eigenen Wege einzuschlagen ungeachtet westlicher Ermahnungen, sich an Regeln zu halten, die der Westen in seinem Interesse als allgemein verbindliche im „Rest der Welt“ durchsetzen will.
Dieser herablassend genannte „rest of the world“ umfaßt mehr als Zwei Drittel sämtlicher Völker und Staaten, die ihre Bestimmung nicht mehr darin erkennen wollen, in der westlichen Wertegemeinschaft ihren Erziehungsberechtigten anzuerkennen. Der Westen ist eine Minderheit, deren politische, ökonomische und militärische Bedeutung schwindet. Überall sind Völker, Nationen oder Staaten darum bemüht, ihre Selbständigkeit und Souveränität zu wahren, sie besinnen sich auf ihre Kultur, ihre Geschichte und ihre Identität, um möglichst unverwechselbar zu bleiben.
Bei der Ukrainefrage endet der westliche Globalisierungshorizont
Damit stehen sie im Gegensatz zum Westen. Der möchte Nationen und Kulturen vergemeinschaften; denn sie stehen der Einheit der Welt in einer Weltordnung im Wege, die alle Besonderheiten überwinden und unschädlich machen muß, die der gebotenen Vereinheitlichung im westlichen Sinn widersprechen. Der Westen, die USA, die Nato und die EU, die gemeinsam der einen Menschheit die Richtung weisen wollen, in die sie sich nach seinen Vorstellungen bewegen soll, haben deshalb jede Beziehung zur Wirklichkeit verloren, was Emmanuel Todd bekümmert. Die Welt, wie sie ist und zu der sie in ihren heutigen Verhältnissen geworden ist, begreift sich außerhalb der westlichen Wertegemeinschaft als multipolar und vielgestaltig.
Erstaunlicherweise setzt sich aber der antinationale Westen mit Waffen, Geld und wehrertüchtigenden Sprüchen für die Verteidigung einer Nation ein, der von einer starken ethnischen Minderheit geprägt ist, wenn man die kulturell verwandten Russen als solche bezeichnen will, nämlich für die Ukraine. In diesem Land, in dem oppositionelle Parteien verboten, Minderheiten ihre Rechte verlieren und selbst in die Religion eingegriffen wird, um sie politisch unschädlich zu machen, gehe es, wie lautstark versichert wird, um die höchsten Werte des Westens, um Demokratie und Freiheitsrechte.
Diese werden, worauf Emmanuel Todd unerschrocken hinweist, im Westen ununterbrochen um- und abgewertet, was die ideologische Rechtfertigung des westlichen Auftrages, überall als Kämpfer für umfassende Demokratisierung eingreifen und für eine auf Regeln basierte Ordnung sorgen zu müssen, recht fragwürdig macht.
Mit Menschenrechten läßt sich keine geistige Leere kaschieren
Im Westen lebt man längst in postliberalen, poststaatlichen und postdemokratischen Zeiten. Meinungsführer, ob als Politiker oder „Experte“ in den Medien, die sogenannten Eliten und „gestaltenden“ Kräfte, mißtrauen dem Volk und den Wählern, die angeblich gar nicht fähig sind, die komplizierten Herausforderungen, auf die es immer nur eine – alternativlose – Antwort gibt, zu verstehen. Sie müssen deshalb dazu erzogen werden, in den Verordnungen und Maßnahmen der Herrschenden die sich darin bekundende praktische Vernunft anzuerkennen und sich einzuordnen in die beste aller Welten, wie sie ihnen von Kompetenzträgern organisiert wird.
Die angeblich freie Welt der wahrhaften und wehrhaften Demokraten gleicht der gelenkten Demokratie Putins, ohne aber deren praktische Effizienz zu erreichen. Rußland ist keineswegs in ein wildes Chaos zurückgefallen, sondern es findet außerhalb des Westens im „Rest der Welt“ mehr oder weniger unverhohlene Unterstützung, weshalb der versuchte Weltkrieg mit Wirtschaftssanktionen, Rußland zu isolieren und westlichen Diktaten zu unterwerfen, gescheitert ist.
Der Westen, der von Werten und Rechten und Menschenwürde dauernd redet, kann damit nicht die geistige Leere und die Weltfremdheit seiner Ordnungsideen kaschieren, seinen offenkundigen Nihilismus und die Nichtigkeit seiner Versuche, die Welt führen zu wollen. Er verfügt über keine kollektiven Glaubenssätze mehr, die ein gemeinsames Wollen in einem konkreten Staat mit einem bestimmten Staatsvolk in Übereinstimmung mit einer jeweils eigenen Kultur und Geschichte ermöglichten. Mit der Vertreibung der Geschichte und des jeweils Besonderen aus seiner Welt fiel der Westen aus der Wirklichkeit, verlor jeden Wirklichkeitssinn und richtete sich in einem Wolkenkuckucksheim ein, in dem er der Welt abhanden gekommen ist.
Der Westen büßt die letzten Reste von Vertrauenswürdigkeit ein
Der Krieg in der Ukraine hängt unmittelbar mit dem westlichen Nihilismus zusammen. Die bellizistischen Redensarten der mächtigen Lärmtrompeten des Nichts sind nur Ausdruck der Macht- und Hilflosigkeit. Der Westen büßt die letzten Reste von Vertrauenswürdigkeit ein, während Rußland Sympathien weckt und Sympathisanten findet.
Als Ergebnis der Niederlage des Westens erwartet Emmanuel Todd, während des Zerfalls der EU, eine Annäherung der Deutschen an die Russen, die beide einander gut ergänzen, und einen Allianzwechsel Israels, das für seine Sicherheit die Vorteile erkennt, die ihm ein gutes Verhältnis mit den Russen verschafft, die zu den islamischen Völkern ein weniger unberechenbares und aufgeregtes Verhältnis unterhalten als die USA.
Emmanuel Todd hatte 1976 sehr genau den nahenden Zusammenbruch der Sowjetunion beschrieben, 2002 mit seinem Nachruf auf die USA erläutert, warum es auf die angeblich unersetzliche Macht nicht weiter ankomme. Jetzt analysiert er das Scheitern des Westens und mit ihm der EU, die im Westen aufging und nur jenseits des herkömmlichen Westens eine Zukunft haben wird. Die Ukraine hat gar keine. Dieses im Augenblick für die herrschende Meinung sehr ungewöhnliche Buch verdient Aufmerksamkeit und vor allem eine Übersetzung. Letztere ist für Mitte Oktober 2024 im Frankfurter Westend-Verlag angekündigt.
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Dr. habil. Eberhard Straub war Historiker und Publizist (1940–2024). Die vorliegende Rezension erreichte die Redaktion vor seinem Tod am 23. Mai. Dies ist sein letzter Text für die JUNGE FREIHEIT.
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Quellenlink : JF-Rezension: JF-Rezension Abgesang auf „den Westen“: Wenn die Bedeutung schwindet