Vor wenigen Wochen wurden in Los Angeles die diesjährigen Oscar-Preisträger bekanntgegeben. Der große Gewinner war „Everything Everywhere All at Once“, deutscher Titel: „Everything Everywhere All at Once“. Zum Vergleich: In Spanien kam die exzentrische Parallelwelt-Fiktion unter dem adaptierten Titel „Todo a la vez en todas partes“ in die Kinos. In Frankreich hieß er „Tout, partout, tout à la fois“.
Sowohl in der spanischen als auch in der französischen Version des Filmtitels nutzten geistig rege Marketing-Experten dieser Länder die Chance, die im Original angelegte Wortspielerei in die jeweilige Muttersprache zu überführen: als rhetorisch wunderbar schillernde Spielart der Figura etymologica. Im Französischen funktionierte das mit den drei Formen von „tout“ am besten. Aber auch im Deutschen hätte sich mit „Überall alles auf einmal“ ein verführerisch funkelnder Titel ergeben. Hätte.
Wenn Ende April mit „The Whale“ (spanisch: „La ballena“) ein weiterer Oscar-Abräumer in die deutschen Kinos kommt, wird man mit den Worten eines bekannten deutschen Liedermachers erneut geneigt sein zu fragen: „Was soll das?“ Konkret: Wie viel Verachtung für die eigene Identität muß ein Land empfinden, dessen kulturelle Elite derartige Sprachzombies auf seine Bürger losläßt?
Liebeskiller Englisch
Und was tun wir unseren Jugendlichen damit an? Stellen wir uns einen Fünfzehnjährigen vor, wie ihn mancher Leser dieser Zeilen vielleicht zu Hause sitzen hat. Da ist also dieses Mädchen, das ihm gut gefällt. Aber wird er es zu einem Zungenbrecher wie „Everything Everywhere All at Once“ einladen, um das Eis zum Schmelzen zu bringen?
Er steht in Englisch vielleicht nur auf Vier, ist bei dem Vorschlag zu einem ersten Rendezvous wie üblich etwas aufgeregt und wird sich bei dem Satz: „Möchtest du mit mir ‘Everything Everywhere All at Once’ sehen?“ garantiert verhaspeln, rot anlaufen und die Angebetete am Ende mit dem Hallodri aus der letzten Reihe in ein niveauloses Spektakel mit leichter auszusprechendem Titel – sagen wir mal „Manta Manta“ – abdampfen lassen müssen.
Und nie wird sich der jungen Dame der großartige Doppelsinn einer Einladung zu einem Film erschließen, bei dem „Überall alles auf einmal“ geschehen kann, obwohl gerade am Beginn einer Freundschaft die Aussicht auf das, was alles geschehen kann, doch in besonders hellen Farben leuchtet. „Everything Everywhere All at Once“ teilte – wenig überraschend – das Schicksal vieler Kritikerlieblinge. Es ist ein altes Gesetz der Filmbranche: Wer bei der jungen Generation scheitert, scheitert an der Kinokasse. Der „hippe“ Titel half nicht.
Was tun wir vor allem uns selbst als Kulturnation an mit diesem anglozentristischen Dauerkotau? Welchen Raubbau an der eigenen kulturellen Identität betreiben da die extrem kurzsichtigen Marketing-Bienchen der Filmverleiher? Und warum gibt es nicht längst eine Verleihförderung, die gekoppelt ist an die Ästhetik des Titels? Hat Kulturförderung etwa nichts mit Ästhetik und Kreativität zu tun?
Wie viele geniale Filmtitel hätte es geben können!?
Paradiesische Zeiten waren das, als Filme unter Titeln wie „Denen man nicht vergibt“, „… die alles begehren“ oder „Die durch die Hölle gehen“ in die Kinos kamen, deutsche Titel übrigens, die über die Originalbenennungen selbstbewußt achselzuckend hinweggingen. John Hustons Westernklassiker mit Audrey Hepburn müßte heute als „The Unforgiven“, Vincente Minnellis Liebesdrama mit dem Traumpaar Richard Burton/Liz Taylor als „The Sandpiper“ und das epochale Vietnamkriegsepos von Michael Cimino unter dem lahmen Titel „The Deer Hunter“ an den Start.
Einen Titel wie „Flammen über Fernost“, bei dem die Kreativbranche zum Zwecke einer gefälligen publikumswirksamen Übersetzung die Alliteration, die dem Originaltitel „The Purple Plain“ Glanz verleiht, kongenial ins Deutsche zu übertragen wußte, wo gibt es den heute noch? Und wie viele Zuschauer mögen wegen des sperrigen „deutschen“ Titels „There Will Be Blood“ einen der herausragendsten Filme des 21. Jahrhunderts verpaßt haben, weil kein genialer Marketing-Stratege auf die Idee kam, das Existenzdrama einfach als „Öl!“, dem Titel der literarischen Vorlage von Upton Sinclair, in die Kinos zu bringen? Weniger ist manchmal mehr.
Wie sehr die Kreativen jeder freien Gesellschaft nach Steilvorlagen lechzen, die sie phänomenal verwandeln können (und dies auch tun), zeigt die beachtliche Karriere, die einigen deutschen Titeln gelang. „Und immer lockt das Weib“, der gelungene Versuch, den Namen des Brigitte-Bardot-Klassikers „Et Dieu créa la femme“ auch lautlich adäquat ins Deutsche zu überführen, wurde zur Redensart, die der Volksmund noch heute kennt. Kevin Costners „Der mit dem Wolf tanzt“ verführte ganze Myriaden von Medienschaffenden zu Sprachspielereien, noch vor wenigen Wochen und über dreißig Jahre nach dem Filmstart auch die JF, wie die Textüberschrift „Der mit den Panzern tanzt“ (JF 10/23) zeigt.
Den Witz am Streifen transportieren
Nicht totzukriegen ist auch „Der Marathon-Mann“, obwohl Dustin Hoffman 1976 in dieser Rolle schwer zugesetzt wurde. Der Filmtitel wurde – im wahrsten Sinne des Wortes – zum Langläufer, wie erst jüngst wieder im Spiegel zu lesen. Zum geflügelten Wort wurden auch die „verhängnisvolle Affäre“, auf die sich Michael Douglas 1987 mit Glenn Close einließ und die heute wohl nur als „Fatal Attraction“ in die Kinos käme, und „Die üblichen Verdächtigen“ aus dem gleichnamigen Hollywood-Krimi von 1995.
Allein dieser kurze Ausschnitt zeigt, wie viele Übersetzungen uns in Fleisch und Blut übergegangen sind und unsere Muttersprache bereichert haben, etwas, wozu Originaltitel wegen ihrer sprachlichen Inkompatibilität nur ausnahmsweise in der Lage sind. Welche Schätze werden hier aus kontraproduktiver Selbstverleugnung und absurdem Mangel an Respekt für die deutsche Sprache verschenkt, wie viele Flüsse, in denen sprachliche Kreativität auf Reisen gehen könnte, voreilig trockengelegt?
Ende März strahlte das deutsche Fernsehen anläßlich des 60. Geburtstags von Quentin Tarantino einige seiner besten Filme aus und führte damit vor Augen, wieviel durch den Verzicht auf kongeniale deutsche Titel verlorengeht. Gerade bei einem Regisseur, dessen Markenzeichen Doppelbödigkeit ist.
Die Anspielung von „The Hateful Eight“, einem Western, auf den Genreklassiker „Die glorreichen Sieben“ wurde ebenso zum Verschwinden gebracht wie die Verbindung von „Once Upon a Time in Hollywood“ zu Sergio Leones Meisterwerk „Es war einmal in Amerika“. Die Provokation, die darin besteht, eine „Schundgeschichte“ auf die Leinwand zu bringen, erschloß sich dem deutschen Zuschauer nicht, als 1994 mit „Pulp Fiction“ der Film eines damals eher unbekannten Regisseurs in die Kinos kam und viele (wie der Autor dieser Zeilen) mit dem Titel nichts anfangen konnten.
Denglische Sprachmonster suchen Kinosäle heim
Silberstreifen am Horizont verdanken sich gelegentlich Buchvorlagen, von denen zum Filmstart bereits eine deutsche Übersetzung vorlag. Es ergibt ja marketingtechnisch wenig Sinn, die Leser eines Romans, die nur dessen deutschen Titel kennen, durch Verhinderung des Wiedererkennungseffekts von einem Kinobesuch abzuhalten. So kam 2005 die Verfilmung von Kazuo Ishiguros Roman „Never Let Me Go“ unter dem wunderbaren deutschen Titel „Alles, was wir geben mußten“ in die Kinos. Ein Lichtblick im Dickicht, in dem germanophobe Sprachverdunkler ihr Publikum gern herumirren lassen. Am liebsten schlägt die Branche jedoch zwei Fliegen mit einer Klappe.
Das heißt: Original und Übersetzung werden zu sprachlichen Siamesischen Zwillingen zusammengenäht, was dann zu grotesk ellenlangen Titeln wie „Die Tribute von Panem – The Hunger Games“ oder „Twilight – Biss zur Morgenstunde“ führt, die in Programmzeitschriften zwei bis drei Zeilen verschlingen. Sehr zur Freude des Lesers, der sich schnell informieren möchte, was bekanntlich im Digitalzeitalter besonders wichtig ist. Daß auch Scherz und Satire nur erblühen, wenn das Deutsche eine Chance bekommt, zeigt die Filmparodie „Die Pute von Panem“, mit der die auf Suzanne Collins’ Büchern beruhenden „Tribute von Panem“ verulkt wurden.
Nicht immer schützt der qua Vorlage etablierte Name vor Usurpation. Als „Die Spinne“ kam Marvel-Held „Spider-Man“ in den sechziger und siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts an die Kioske. Doch das hat Peter Parker, dem Mann im Spinnenkostüm, wenig genützt. „Die Spinne“ verlor ihren deutschen Namen. Kaum zu fassen, daß die Liga der Genderextremisten, die das weibliche Geschlecht als sprachlich notorisch unterrepräsentiert empfindet, die Chance zu Massenprotesten gegen die patriarchale Umbenennung ungenutzt verstreichen ließ.
Es geht nicht um nur-noch-Deutsch
Vollends absurd wird es, wenn nicht-englischsprachige Filme wie etwa die bei Jugendlichen als „Animes“ beliebten japanischen Zeichentrickfilme statt mit deutschen mit englischen Titeln versehen werden: „Ride Your Wave“ statt „Die Wellenreiterin“. Noch einmal: Was soll das? Zugegeben, unter dem Titel „Basis-Instinkt“ bzw. „Elite-Pilotenschule“ hätten die Kassenknüller „Basic Instinct“ und „Top Gun“ beim Publikum wohl weniger gepunktet. Niemand kann daher eine dogmatische Nur-noch-Deutsch-Doktrin wollen. Es geht im Gegenteil vielmehr um die Aufhebung der Deutsch-Vermeidungsdoktrin, die wider jeden gesunden Menschenverstand im Filmmarketing etabliert wurde.
Allerdings – und das macht das ganze Elend sichtbar – nicht nur dort. Das beweist ein Blick in die Nachbarbranche Profisport. In Zeiten, in denen selbst EM-Qualifikationsspiele als „European Qualifiers“ und eine Leichtathletik-EM zu „European Championships“ umetikettiert werden, gleicht die hier vorgenommene Sprachkritik Kassandra-Rufen, die ungehört verhallen werden.
Ich bin ein David im Tech-Blogger, Digital Marketing Profi seit 8 Jahren. Computeringenieur von Beruf und ich liebe es, neue Ideen zu finden, die die SEO von Websites verbessern. Ich teile gerne Wissen und Informationen zu vielen Themen. Mein Ziel ist es, die Sichtbarkeit im Internet zu erhöhen und seine Gedanken zu teilen. Außerdem lese ich gerne und höre Musik.
Quellenlink : FilmtitelDie verachtete Sprache