Ein Kontinent in Aufruhr: Ein Kontinent in Aufruhr Revoltenjahr 1848: Panorama eines europäischen Aufstands

Der Oxforder Historiker Christopher Clark ist bekannt geworden durch eine Darstellung der Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs, die die Verantwortung für diese Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts vom Deutschen Reich fort in Richtung Frankreich, Rußland und Serbien schiebt („Die Schlafwandler“, 2013). Das Buch löste ein starkes öffentliches Echo aus, weil es dem schon in der Bonner Republik dominanten Geschichtsverständnis widersprach, das die Lüge des Versailler Diktatfriedens von der deutschen Hauptschuld identitätspolitisch akzeptiert und dogmatisiert hatte.

Auf eine ähnlich heftige Publikumsresonanz sollte Clark mit seinem jüngsten Opus, dem monumentalen Panorama der europäischen Revolutionen von 1848/49, nicht spekulieren. Nicht nur wegen des Umfangs von fast 1.200 Seiten, der auch gutwilligste Leser einschüchtert, sondern wegen des Gegenstands, der bestens erforschten Politik- und Gesellschaftsgeschichte einer Revolution, die Historiker zwar weiterhin kontrovers bewerten, die aber selbst an runden Jubiläen jenseits ihres Elfenbeinturms keine Debatten mehr provoziert.

Das Jahr 1848 steht im gesamteuropäischen Kontext

Christopher Clark: Frühling der Revolution. Europa 1848/49 und der Kampf für eine neue Welt, Deutsche Verlags-Anstalt, München 2023, gebunden, 1.164 Seiten, Abbildungen, 48 Euro. Jetzt im JF-Buchdienst bestellen.

Aussichtslos ist daher Clarks Versuch, seinem Thema mit der Behauptung neue Aufmerksamkeit verschaffen zu wollen, kein anderes Ereignis jemals zuvor und danach habe eine vergleichbare, den ganzen Kontinent erschütternde Auswirkung gehabt wie dieser „europäische Aufstand mit globaler Dimension“. Ein kurzer Hinweis auf Völkerwanderung, Reformation oder die Weltkriege genügt, um diese These zu bezweifeln.

Plausibler rechtfertigt er hingegen sein Unternehmen mit der Ankündigung, dieses Opus werde die 1848er-Revolutionen in singulärer Breite als „europäische Aufstände“ präsentieren, um sie aus ihren Vereinnahmungen in den jeweiligen nationalstaatlichen Erinnerungskulturen zu befreien. Die speziell in Deutschland, Italien und Frankreich dazu führten, unter warnender Berufung auf die 1848 „gescheiterten“ demokratischen Aufbrüche das politische Heil in autoritären oder totalitären Alternativen suchen zu müssen. Insoweit liegt Clark im aktuellen, in Deutschland besonders kraß ausgeprägten historiographischen Trend, die Nation zugunsten Europas oder gar der „ganzen Welt“ ins Zentrum jeder Geschichtserzählung zur rücken.  

Clark spannt darum den Bogen von Jütland bis Sizilien, von Portugal bis Galizien, vergißt komplizierte Verzahnungen zwischen nationalen und sozialen Problemen im Habsburger Vielvölkerreich sowenig wie Bürgerkriegsgeplänkel in Schweizer Kantonen und Zusammenstöße, die in der Walachei aus der Befreiung von „Zigeunersklaven“  resultieren. Nicht berücksichtigen mußte der ein ungeheures Material verwertende, eine Kompanie akademischer Sherpas einspannende Autor lediglich das Zarenreich, weil die robuste Autokratie dort gegenüber dem Umsturzvirus immun blieb.

Auch das britische Empire tobte – ohne Erfolg

Großbritannien, das in gängigen 1848er-Monographien als unerschütterlich liberal-konservativer eherner Fels aus Europas Revolutionsmeer ragt, erwies sich als ebenso stabil, weil die Herrschenden eine klug dosierte Reformpolitik trieben, kombiniert mit effizienter Polizeiüberwachung. Die das zu Krawallen neigende Irland fünfmal so streng kontrollierte wie England, wo man das Potential für Unruhen und Streiks durch vorbeugende Verhaftungen und Deportationen nach Australien verminderte. Preußens Regierung war vom britischen Repressionsmodell derart beeindruckt, daß sie im Sommer 1848 einen Berliner Polizeipräsidenten auf den „Weg nach Westen“ (Heinrich August Winkler) schickte, um die teilweise militärisch aufgerüsteten Ordnungshüter zwischen Glasgow, Dublin und London zu inspizieren und von ihnen zu lernen.

Großbritannien, so vermerkt Clark süffisant, sei für den vielgeschmähten preußischen „Polizeistaat“ insoweit also „kein Vorbild an gelassener Liberalität, sondern an Stärke und Schlagkraft“ gewesen. Zähle man die Fernwirkung der kontinentalen Revolutionen auf den ionischen Inseln, einem britischen Protektorat, und in den asiatischen Regionen des Empire hinzu, wo Aufstände gewaltsam erstickt wurden, zerfalle der Mythos, ein „britisches 1848“ habe es nicht gegeben.        

Die Hauptschauplätze dieser Meistererzählung liegen jedoch in Paris, Berlin, Wien, Budapest, Mailand, Rom und Palermo. Montagetechnisch virtuos mischt Clark Referate aus der internationalen Forschungsliteratur zu 1848/49 mit Zitaten aus zeitgenössischen Augenzeugenberichten, Presseartikeln, Denkschriften, Pamphleten, Memoiren, Briefeditionen. Mit kühnen Schnitten, rasch die Orte des dramatischen Geschehens wechselnd, nie den Sinn fürs anschauliche Detail verlierend, sorgt Clark für eine kurzweilige, oft spannende  Lektüre. Er stiftet damit aber leider nur einen geographischen und chronologischen Zusammenhang, der analytisch nicht durchdrungen wird.

Hauptursache der Revolution war das europaweite Massenelend

So häuft er, der gleich eingangs mit einem furiosen Ausflug in ein Herz sozialer Finsternis, die Wohnhöhlen der Armen von Nantes, schockiert, Materialmassen, um zu belegen, daß Hauptursache der Revolution das sich seit 1845 in Hungeraufständen eskalierende europaweite Massenelend gewesen ist. So sah es auch der Pariser Literaturpapst Charles-Augustin Sainte-Beuve, für den der Magen das eigentlich revoltierende Organ war.

In Paris, seit 1845 Millionenstadt, ernährte sich ein Siebtel der Einwohner als Bettler. In Preußen krebsten 1846 50 bis 60 Prozent der Bevölkerung am Rande des Existenzminimums. Und unter den elf Millionen Einwohnern Großbritanniens zählt die Statistik vier Millionen Menschen, die permanent hungerten, dazu vier Millionen Arme, 1,5 Millionen mit knappem Einkommen sowie lediglich 500.000 Reiche und Superreiche, die luxuriös lebten in einem Gemeinwesen, das entgegen der heute noch im „Wertewesten“ kursierenden liberalen Legende nicht den Volkswillen und die bürgerlichen Freiheiten verkörperte, sondern die seit dem 17. Jahrhundert ungebrochene Macht der plutokratischen Aristokratie und Handelsbourgeoisie.

Friedrich Engels’ Report zur „Lage der arbeitenden Klasse in England“ (1845) und die von Clark gleichfalls ignorierten sozialkritischen Romane Charles Dikens’ prangerten diese vom Laissez-faire-Kapitalismus geschaffene humanitäre Katastrophe an, um die wirtschaftsliberalen Führungseliten daran zu erinnern, daß der „Cash-nexus“ (Thomas Carlyle) kaum die Basis einer funktionierenden Gesellschaft sein könne.  

Nur das Bürgertum verfügte über die Kraft zum Systemsturz   

In dem Maße, wie Clarks Arbeit auf dem Fundament „dichter Beschreibung“ des Massenelends als wesentlicher Revolutionsursache ruht, vernachlässigt sie deren wichtigere sozioökomische Voraussetzung: den Aufstieg jener Schicht, ohne deren bereits erlangte wirtschaftliche Macht es ab Februar 1848 nirgends zu jenen Eruptionen und Systemveränderungen gekommen wäre, die unter dem Rubrum „bürgerliche Revolution“ in die Geschichtsbücher eingingen. Das große Geld regiere anonym, das mache seine Herrschaft in der Regel erträglich.

Die 1830 in Frankreich etablierte „Julimonarchie“ unter dem „Bürgerkönig“ Louis-Philippe, faktisch eine „Aktienkompanie zur Ausbeutung des französischen Nationalvermögens“ (Karl Marx), habe aber solche Zurückhaltung vermissen lassen, gab stattdessen die wölfische Parole „Bereichert euch“ aus und läutete damit „das Zeitalter der brutalsten Herrschaft des Reichtums“ ein (Eugen Rosenstock, „Die europäischen Revolutionen“, 1931). In zwei den Konnex zwischen ökonomischen Lagen und politischen Prozessen sezierenden Texten von Karl Marx über „Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850“ (1850) und „Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte“ (1852) ist nachzulesen, was für Clark nichts weiter ist als eine „Verunglimpfung“ der Julimonarchie als „Klassenregime“.

An diesem neuralgischen Punkt seiner ausführlichen Vorgeschichte der Februarrevolution stellt Clark die Weichen so falsch, daß das Massenelend, dessen Urheber bei ihm allerdings eher anonym bleiben, und nicht der Aufstieg des Bürgertums das „eigentliche Tiefenphänomen“ der kapitalistisch organisierten Arbeits- und Lebenswelt der Jahrzehnte seit 1815 (Thomas Nipperdey, 1983) ist. Doch Armut und Hunger allein sind, wie Clark selbst einräumt, zwar in der Regel eine notwendige, aber nie eine hinreichende Bedingung für eine Revolution. Sonst hätten deren Epizentren 1848 nicht in Paris und Berlin, sondern in den Notstandsgebieten Irlands und Schlesiens gelegen. Nicht die ausgepowerte, zum organisierten Widerstand unfähige Unterschicht, nur die politisch-ökonomische und kulturelle Avantgarde des Bürgertums verfügte über die Kraft zum Systemsturz.

Auf den Triumph der Aufständischen folgte die Niederlage  

Positivistisch auf Ereignisgeschichte konzentriert, einer soziologischen Durchleuchtung wirtschaftlicher Machtverhältnisse abhold, erfaßt Clark, der Marginalem wie dem Oberschichtenphänomen Frauenemanzipation und der Europa kaum berührenden Sklavenbefreiung in Übersee viel Raum widmet, nicht, daß bis 1848 auch innerhalb des Bürgertums, und zwar nicht allein in Frankreich, ein Klassenkampf ausgetragen wird – zwischen der Finanzaristokratie, als deren Dirigenten Marx ungeniert „Börsenjuden“ wie das Bankhaus Rothschild markiert, und der mit dem Besitz- und Bildungsbürgertum liierten industriellen Bourgeoisie.

Bis 1848, auf dem Weg von der bürgerlichen Monarchie zur bürgerlichen Republik, formiert sich dann im Kampf für ein allgemeines Wahlrecht die alle besitzenden Klassen in den Kreis politischer Macht integrierende, fragile revolutionäre Einheitsfront, die im Februar 1848 triumphiert. Um nur Monate später zu zerfallen, weil die bürgerlichen Fraktionen sich gegen die soziale Republik ihrer demokratischen und sozialistischen Koalitionäre entscheiden.

JF 27/24

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