Die Zukunft der Republik: Die Zukunft der Republik Parlamentswahl in Frankreich: Le Pens heimlicher Sieg

In Frankreich zögerten nur wenige Kommentatoren am Abend der zweiten Runde der Parlamentswahlen, von einem „Rückschlag“ für den Rassemblement National (RN) zu sprechen. Dies ist eine völlig falsche Betrachtungsweise. Die Wahrheit ist, daß sich der Aufschwung des RN weitgehend bestätigt hat – aber Frankreich unregierbar geworden ist.

Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache. Im Jahr 2020 hatte der RN nur sechs Abgeordnete in der Nationalversammlung. Bei den Parlamentswahlen 2022 war er auf Sitze im Parlament 89 angewachsen. Ab dem 7. Juli dieses Jahres stellt der RN 143 Abgeordnete. Außerdem erhielt die Partei von Marine Le Pen fast zehn Millionen Stimmen (2022 waren es nur 4,2 Millionen), gegenüber 7,4 Millionen für die Neue Volksfront und 6,5 Millionen für Ensemble, das Wahlbündnis von Macrons Mitte.

Die absolute Mehrheit im Parlament (289 Sitze) konnte sie hingegen nicht gewinnen, was ihre Ergebnisse bei den letzten Europawahlen aber auch erwarten ließen. Diese wachsenden Zahlen erklären sich vor allem aus dem Gefühl der Entmachtung der Volksschichten, die heute immer stärker mit Unsicherheit, Einwanderung, Inflation, sinkender Kaufkraft und Prekarität konfrontiert sind.

Frankreichs „republikanische Front“ war eine Verzögerungstaktik

Die für Deutsche auffällige Spaltung liegt in den Besonderheiten des Mehrheitswahlrechts mit zwei Wahlgängen begründet, das Verhandlungen zwischen diesen beiden Durchläufen befördert. Die führen in vielen Fällen zu einem Rückzug. Aufgrund der hohen Wahlbeteiligung stieg die Zahl der Kandidaten an, die das für den Einzug in den zweiten Wahlgang erforderliche Quorum von 12,5 Prozent erreichen konnten, was zahlreiche „Dreieckswahlen“ erwarten ließ.

Unter dem Vorwand, „der extremen Rechten einen Riegel vorzuschieben“, und in einem Klima der Hysterie, das von den großen Medien geschürt wurde, die den Einzug des RN als moderne Version der Apokalypse darstellten, kam es zu einer Reihe von unnatürlichen Allianzen (RN-Vorsitzender Jordan Bardella sprach von einer „Allianz der Schande“) zwischen Politikern und Parteien, die noch am Vortag verfeindet waren. Sie einte allein den RN, der im ersten Wahlgang viele Wahlkreise dominierte, den Sieg zu verwehren.

Um nur eines von vielen Beispielen zu nennen: Die Neue Linksfront zögerte nicht, ihre Kandidaten zurückzuziehen, wo zwei Persönlichkeiten, die sie in den letzten Jahren immer wieder scharf bekämpft hatte, nämlich Innenminister Gerald Darmanin und Elisabeth Borne, die die Rentenreform auf den Weg gebracht hatte, Gefahr liefen, im zweiten Wahlgang vom von der Rechten geschlagen zu werden! Insgesamt zogen sich 224 Kandidaten der Linken und des Zentrums zurück, einzig um den RN daran zu hindern, die Mehrheit zu erringen. In den 29 Wahlkreisen, in denen es keine „republikanische Front“ gab, gewann der RN stattdessen in jedem dritten Wahlkreis. Wir können hier von einer Verzögerungstaktik sprechen, um den rechten Wählern  das wahre Gewicht ihrer Stimmen wegzunehmen.

Macron ist weit von einer Mehrheit entfernt

Der große Verlierer ist unbestreitbar Präsident Emmanuel Macron. Der Staatschef hatte seine Entscheidung, die Nationalversammlung aufzulösen, mit dem Wunsch nach „Klärung“ begründet. Statt einer Klärung hat er eine völlig undurchsichtige und chaotische Situation geschaffen. Was die Auflösung betrifft, so hat er zunächst seine Mehrheit aufgelöst und den Macronismus gleich mit. Er hat sich gewissermaßen selbst aufgelöst.

Die drei großen Blöcke, die jeweils etwa ein Drittel der Wählerschaft repräsentieren, werden künftig in der Nationalversammlung nebeneinander fortbestehen. Aber keiner von ihnen verfügt über eine Mehrheit, die es ihm erlaubt zu regieren. Mit 168 Abgeordneten ist Macrons Ensemble weit davon entfernt, die 250 Abgeordneten zu erreichen, die Macron in der letzten Periode hinter sich wußte, ganz zu schweigen von den 350 Abgeordneten, die 2017 für ihn stimmten. Die Neue Linksfront wiederum liegt mit 182 Abgeordneten knapp vor Macrons Bündnis.

Ein weiterer wesentlicher Punkt, der für den RN spricht: Während er mit seinen republikanischen Verbündeten einen einheitlichen Block bildet, der über eine solide Basis in den heute deklassierten Arbeiter- und Mittelschichten verfügt, sind seine beiden Konkurrenten alles andere als einheitlich. Es handelt sich um Gelegenheitskoalitionen.

Duell zwischen Le Pen und Mélenchon ist in Reichweite

Die Ensemble-Abgeordneten kommen von überall her, da Macron opportunistisch alle Register gezogen hat, um sie zusammenzubringen. Die Neue Linksfront wiederum vereint zwei sehr unterschiedliche Gruppen: Auf der einen Seite eine sozialdemokratische Linke, die von Männern wie Raphaël Glucksmann oder Olivier Faure, von der Sozialistischen Partei und den Umweltschützern vertreten wird; auf der anderen Seite die von Jean-Luc Mélenchon geführte Partei La France insoumise, die von ihren rechten und linken Gegnern oft als antisemitisch und „links-islamisch“ kritisiert wird, nur 74 Kandidaten aufgestellt hat und damit eine Minderheit innerhalb der Linken darstellt. Eine solche Koalition ist offensichtlich dazu bestimmt, in ihre Einzelteile zu zerfallen.

Welchen Premierminister Macron auch immer ernennen will, er wird größte Schwierigkeiten haben, eine Mehrheit zum Regieren zu finden, zumal „große Koalitionen“ wie in Deutschland nicht in der französischen Tradition stehen. Der Staatschef, dessen engste Vertraute bereits begonnen haben, sich von ihm zu distanzieren – so wie Ratten ein sinkendes Schiff verlassen –, hat eindeutig die Kontrolle verloren. Ihm ist eine Art institutioneller Staatsstreich gelungen, und er läuft Gefahr, Frankreich mit sich in den Abgrund zu reißen. Er hat dafür gesorgt, daß der RN rund 100 Wahlkreise nicht gewonnen hat, aber es ist ihm nicht gelungen, seinen Vormarsch aufzuhalten. Die Dynamik bleibt eindeutig auf seiten des Rassemblement National, der heute die wichtigste Partei Frankreichs ist.

Da die Mitte allmählich erodieren wird, wäre es logisch, daß bei den nächsten Präsidentschaftswahlen Marine Le Pen gegen einen Mann wie Jean-Luc Mélenchon antreten müßte. Sie hätte gute Chancen, aus einem solchen Duell als Siegerin hervorzugehen, zumal sich die Lage im Land weiter verschlechtert haben wird, während die Frustration und der Zorn ihrer Anhänger weiter zunehmen wird. Bis dahin ist mit einer fast vollständigen institutionellen Lähmung, Instabilität und wahrscheinlich auch mit Gewalt zu rechnen. Das hat es in der Fünften Republik noch nie gegeben.

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Alain de Benoist, französischer Philosoph und Publizist, ist Herausgeber der Zeitschriften Nouvelle École und Krisis.

JF 29/24 

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