Buch von Julian Nida-RümelinCancel Culture: Überall lauert die Gesinnungs­polizei

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Cancel Culture hat eine unrühmliche Tradition. Diese ist so alt wie die Menschheit und in ihrer Wirkung noch heute für die Betroffenen so verheerend wie vor 3.500 Jahren. Eine Auswahl von Fällen hat Nathalie Weidenfeld auf Bitte von Julian Nida-Rümelin ans Ende von dessen Essay „Cancel Culture – Ende der Aufklärung?“ gestellt. Der Philosoph und stellvertretende Vorsitzende des deutschen Ethikrats unterscheidet dabei drei Eskalationsstufen: 1. Meinungen verbieten, 2. Personen vom Diskurs ausschließen und marginalisieren sowie letztlich 3. sozialer oder physischer Tod.

Schaut man auf den Umgang der Altparteien, der Bundesregierung und der mit ihr verflochtenen und abhängigen Institutionen bis hin zu den Gerichten mit Andersdenkenden, dann ist Stufe zwei längst überschritten. Wer eigene Ansichten äußert, die nicht in den Mainstream passen, muß um seinen Arbeitsplatz und die Karriere fürchten. Es gibt inzwischen gewalttätige Angriffe auf Menschen durch die Antifa, bei denen bleibende Schäden und sogar der Tod einkalkuliert sind.

Letztlich betont auch Weidenfeld, daß „wir uns“ in keinem der aufgezählten Fälle der praktizierten Cancel Culture zwischen dem Tod von Pharao Echnaton, der 1351 v. Chr. den Thron bestiegen hatte, über den in den Selbstmord getriebenen Sokrates und die Schriftenverbrennungen auf Anordnung chinesischer oder römischer Kaiser bis zur Zensur von Büchern in US-Schulen „mit der Position der jeweils gecancelten Meinung oder auch der Person, die aus dem Diskurs ausgeschlossen wird oder werden soll“, identifizieren.

Liste der Schande

Wer Humanismus und Aufklärung gegen Intoleranz, Ignoranz, Hetze und Diskursverweigerung verteidigen will, wie Nida-Rümelin mit seinem 2021 begonnenen „Plädoyer für eigenständiges Denken“, oder ihm dabei hilft, tut gut daran, im deutschen Herbst 2023 vorsichtig zu sein. Denn überall lauert die Gesinnungspolizei mit ihren willfährigen Helfern. Er habe die „etwas irritierende These, daß ‘Cancel Culture’ der Normalfall in der Menschheitsgeschichte ist – nicht aber die Demokratie“, so Nida-Rümelin in einem Interview zu seinem Essay.

Das moderne China war wohl das erste Land, in dem Menschen im Internet an den Pranger gestellt wurden, für angebliche Vergehen, die nicht justitiabel waren. Herabwürdigungen bis zu Morddrohungen haben in Deutschland eine schlimme Tradition. Der bayerische Innenminister Günther Beckstein (CSU) mußte 2012 seine Rede über Asyl und Zuwanderung an der Universität Bremen abbrechen, weil Flüchtlingsaktivisten und Studenten lautstark pöbelten, der Historiker Jörg Baberowski wurde zwei Jahre später für seine wissenschaftlichen Ausarbeitungen zu Hitler nicht widerlegt, sondern als Rassist beschimpft und erhielt Morddrohungen.

Unbequeme Schriftsteller werden ausgeladen, eine Dresdner Buchhändlerin von der Leitung des Deutschen Hygiene-Museums zu einer öffentlichen Veranstaltung nicht zugelassen, einer staatlichen Einrichtung, aus der schon im Dritten Reich die nationalsozialistische Rassenideologie über ganz Deutschland schwappte. Demonstranten verhinderten 2019 in Göttingen einen Vortrag des früheren Bundesinnenministers Thomas de Maizière. Die Stadt Hannover sagte 2021 eine Verantstaltung ab, auf der Helmut Bley, emeritierter Professor für Neuere und Afrikanische Geschichte an der Leibniz-Universität Hannover, einen Vortrag mit dem Titel „Kolonialgeschichte von Afrikanern und Afrikanerinnen her denken“ halten sollte. Eine Handvoll Aktivisten einer Initiative Diskriminierungssensibilität und Rassismuskritik hatte Druck gemacht: Ein „alter weißer Mann“ dürfe nicht über Afrika sprechen, weil dieser sich nicht „in afrikanische Verhältnisse hineindenken und einfühlen könne“.

Nida-Rümelins Vorschlag: Mehr Aufklärung wagen

„‚Cancel Culture‘ – Ende der Aufklärung?: Ein Plädoyer für eigenständiges Denken“ von Julian Nida-Rümelin

Mit seinem Essay will Nida-Rümelin, bis 2020 Inhaber des Lehrstuhls für Philosophie und politische Theorie an der Ludwig-Maximilians-Universität in München, jenseits des politischen Schlagabtauschs „Begriffe und Argumente“ klären, „um den aktuellen Gefährdungen der liberalen und sozialen Demokratie und ihren zivilkulturellen Grundlagen entgegenzutreten“. Das Gegenmodell zu der in Deutschland gepflegten Unterdrückung unliebsamer Meinungen müsse die „aufklärisch gestimmte Kritik“ sein. Warum das so ist, verdeutlicht Nida-Rümelin am Diskurs über die Rolle von Kritik und offenem Meinungsaustausch für Gesellschaften, mit der sich schon Platon, Aristoteles, Thomas Hobbes, John Locke, Immanuel Kant oder René Descartes auseinandersetzten. Gleichzeitig nennt er Bedingungen für den Erhalt einer demokratischen Gesellschaft.

Interessant bleibt dabei der Fall des Wissenschaftlers Galileo Galilei, dem Nida-Rümelin ein ganzes Kapitel widmet. Was passiert, wenn die Erkenntnis eines Einzelnen droht, ein nach innen und außen geschlossenes Weltbild zum Einsturz zu bringen. Nida-Rümelin erinnert daran, daß mit Kardinal Bellarmin „nicht tumber Machtanspruch gegen rationale Wissenschaft“ antritt, sondern sich zwei ebenbürtige Intellektuelle gegenüberstanden, der eine um die Einheit des christlichen Weltbildes bemüht, der andere vom strengen Geist der Wissenschaft bestimmt. Ein Konflikt, der, so Nida-Rümelin, „bis heute unentscheidbar ist“. Denn konnte Galilei wirklich wollen, daß ein Autoritätszerfall der Kirche im Aufstand und Chaos münden würde, die soziale und politische Ordnung zusammenbräche? Liegt das, was sich aus der Veröffentlichung der Wahrheit ergibt, nicht mehr in der Verantwortung des Wissenschaftlers?

Cancel Culture führt zur gelenkten Demokratie

Sorgen bereitet Nida-Rümelin, daß aktuell „im Zeichen politischer Korrektheit die Abwehr von wissenschaftlichen Praktiken und Ergebnissen organisiert wird, die dem eigenen politischen Weltbild nicht entsprechen“. So hätten wohl Albert Einsteins Artikel zur speziellen Relativitätstheorie „unter den heutigen Bedingungen anonymer Review-Prozesse“ keine Chance auf Veröffentlichung gehabt. Es sei aber für Demokratien gefährlich, abweichende Stellungnahmen zu marginalisieren, zu unterdrücken oder gar zum Schweigen zu bringen. „Hände weg von jeder Form der Politisierung der Wissenschaft“, warnt der Autor und wirbt dafür, „Meinungsverschiedenheiten zuzulassen, auch radikale Infragstellungen von Theorien, die von der Mehrheit der Wissenschaftler einer Disziplin oder von einer spezifischen Scientific Community akzeptiert sind“. Diese seien Bedingung wissenschaftlicher Kreativität und wissenschaftlichen Erkenntnisfortschritts.

Zugleich analysiert der 68jährige die von der Politik, aber auch den Medienhäusern gepflegte Praxis, bestimmte zutreffende Informationen zu unterdrücken und andere zutreffende Informationen in den Vordergrund zu rücken. Eine Demokratie, die lediglich gelenkte und formatierte Informationen zulasse, verletze aber das Recht auf Selbstbestimmung und gefährde die erkenntnisbezogenen Grundlagen demokratischer Praxis.

„Fairneß im Sinne von Unparteilichkeit verlangt nach einer kulturellen und politischen Praxis der Meinungsvielfalt und der rechtsstaatlichen Vorkehrungen gegenüber jeder Form der majoritären Unterdrückung der Artikulationformen von Minderheiten oder von je individuell abweichenden Stellungnahmen“, schreibt Nida-Rümelin und übersieht dabei, daß in Deutschland eine Minderheit der Mehrheit ihre Artikulationsformen aufdoktriniert.

Der Feind steht immer noch rechts

In seine Rolle als ehemaliger SPD-Politiker schlüpft der Philosoph, wenn er betont, die größte Gefahr für die Demokratie als Staats- und Lebensform gehe nicht von linker Cancel Culture aus, sondern von rechtspopulistischen Kräften: Diese würden durch politische und kulturelle Fehlentwicklungen gestärkt, zu denen die sich ausbreitende Cancel Culture zählt. Die Stärke des aufklärerischen Projekts ist zugleich ihre Schwäche, räumt Nida-Rümelin ein: „Im Vertrauen auf die menschliche Vernunft nimmt sie ihre Kritiker als Gesprächspartner ernst und bekämpft sie nicht als ihre Feinde.“

Alles außer Beleidigungen, Aufstachelung zum Völkerhaß, Leugnung des Holocausts, Anstiftung zu Straftaten wie Terrorakten, die strafrechtlich zu verfolgen sind, müßten „wir aushalten, beziehungsweise allem anderen müssen wir diskursiv und nicht durch Deplatforming oder andere Praktiken der Cancel Culture begegnen“. Nida-Rümelin appelliert in dem lesenswerten Essay letztlich an die Vernunft, auch gegenüber ihren Verächtern. Sein Buch ist ein „Gesprächsangebot“ an alle.

JF 42/23 

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