Früher war alles besser – auch die Linke. Zu diesem Schluß kommt Pauline Voss, als sie am Mittwochabend in der Bibliothek des Konservatismus aus ihrem Buch „Generation Krokodilstränen“ liest. „Man kann sich nicht so frei entfalten, wie ich das aus den Erzählungen meiner Eltern kenne und wofür sie in den Siebzigern auf die Straße gingen“, beklagt die Reporterin des Nachrichtenportals Nius vor einem vollen Saal.
Vielmehr mache sich eine „woke“ Spießigkeit breit. Wer vom linken Mainstream abweichende Positionen vertrete, werde „ganz schnell“ isoliert. Wie diese „Wokeness“ funktioniert und sich auf die Gesellschaft auswirkt, erklärt sie anschließend. Und macht den aus der Linken stammenden Philosophen Michel Foucault zum Kronzeugen. „Wenn er schildert, wie die Mechanismen der Disziplin die Gesellschaft durchwirken, erscheint es mitunter, als hätte er beim Schreiben unsere Gegenwart vor Augen gehabt“, zitiert sie aus ihrem Buch.
Foucault sieht den gläsernen Bürger unter undurchschaubarer Kontrolle als Gefahr
So erkläre sein Konzept des „Panoptismus“, der dauerhaften Sichtbarkeit, wie die modernen Gesellschaften Abweichler auf Linie bringen: „Wer im digitalen Raum gegen die Regeln des Anstands verstößt, kann sicher sein, beim Fehltritt beobachtet zu werden – er weiß nur nicht immer, von wem.“ Der Einzelne, schreibt Foucault, müsse die Machtverhältnisse internalisieren und sich ihnen unterwerfen.
Dabei helfe ein „Beziehungsnetz“ dauerhaft überwachter Überwacher. Etwa bei Wörtern, die nicht mehr der politischen Korrektheit entsprächen, oder beim Konsum „umweltschädlicher“ Produkte. „Bei nächster Gelegenheit mahnen wir selbst die korrekte Verwendung der Sprache oder bewußten Konsum an“, merkt Voss an. Wie wirksam die Mechanismen sind, begründet sie mit ihrem Umfeld: „Ich kenne Leute, die sagen, daß sie mit ihren Freunden nicht mehr über Politik reden. Sie sorgen sich darum, Freundschaften zu verlieren und Konflikte hervorzurufen.“
Sexualität dient als Parallele zu anderen Phänomenen
Eine Schlüsselrolle spiele auch Sexualität. „Für Foucault ist sie ein Umweg, um zu zeigen, wie die Gesellschaft funktioniert“, erklärt Voss. So würden im Gegensatz zum Anfang des 20. Jahrhunderts „keine Korsagen“ mehr geschnürt. Doch unter dem „Banner der Befreiung“ habe sich eine Atmosphäre der Kontrolle etabliert. Zum Beispiel, als Medien Prominente fälschlicherweise sexueller Übergriffe bezichtigt haben. Oder als Sender wie RTL, die sonst ihre „Reality-Protagonisten am liebsten beim Erbrechen von Hirschhoden“ zeigten, für „trans*sensible Sprache“ warben.
Laut Foucault bilde sich die Gesellschaft ein, die Sexualität sei unterdrückt worden und müsse befreit werden. „Doch wer befreien will, braucht Unterdrückte dazu“, erklärt Voss. Am Ende verkomme die Gesellschaft selbst zum Feind – sie sei gefährlich für den Einzelnen, der von ihren Zwängen befreit werden müsse. Sie sei ein praktischer und aufreibender Gegner, weil sie nicht über Gesetze, sondern Normen funktioniere. „Es gibt kein Entkommen vom Befreiungskampf“, mahnt die Journalistin. Wo niemand sich diskriminiert fühle, werde bald das Gefühl keimen.
Inzwischen ist auch der Staat zunehmend tätig
Eine wichtige Rolle erfülle „Mikroaggression“, ein Begriff, der ein lautes Gelächter des Publikums hervorruft. Voss zufolge gehe es um „Äußerungen, die verletzend“ seien, aber unterhalb der Strafbarkeitsgrenze lägen. Dazu sei nicht einmal eine verletzende Absicht notwendig. So könne die Frage, woher das Gegenüber komme, als Mikroaggression wahrgenommen werden. „Neulich habe ich ein paar junge Konservative gefragt, woher sie kamen, weil sie einen leichten Akzent hatten. Sie waren aus Kolumbien – und ich war froh, daß ich mir keinen Fehltritt geleistet habe“, erinnert sich Voss. Nur wer solche Zeichen der Diskriminierungen zu deuten verstehe, sei „Herr der Wahrheit“.
Das Gesellschaftliche verlagere sich dabei zunehmend auf die staatliche Ebene, etwa beim sogenannten Selbstbestimmungsgesetz. Als Beispiel nennt Voss das Offenbarungsverbot: „Es verbietet nicht das offensichtlich Verletzende, sondern das Aussprechen einer faktischen Tatsache, das als diskriminierend gewertet wird.“ Selbst zynische Anmerkungen und Witze im Netz – wie etwa das Clown-Emoji – werden dabei zum Fall für den Verfassungsschutz. „Wir erleben die von Foucault beschriebene ‘außergerichtliche Einkerkerung’, die zwischen dem Gesetzesbruch und der Normabweichung kaum noch einen Unterschied macht.“
Selbstbewußt und wachsam bleiben ist die Devise
Voss‘ Analyse animiert das Publikum zum Applaus – doch bei einigen Fragen des Publikums kommt sie ins Grübeln. Zum Beispiel, ob die aktuellen politischen Verhältnisse ein Produkt der „Wokeness“ seien oder umgekehrt. „Was ich da erkenne, ist die Macht der Ideologie“, antwortet die Journalistin. Die Ideologie sei ein mächtiges Instrument, das zur Selbstanpassung führe – etwa beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk. „Viele wissen einfach, wie sie berichten müssen, um der Regierung zu nutzen.“
Eindeutiger fällt ihr Urteil darüber aus, warum junge Menschen zur „Wokeness“ neigen. „Meine Generation hat nicht wirklich gelernt, dafür zu kämpfen, was sie wirklich beschäftigt“, sagt sie. Kaum thematisiert werde etwa die Art, in der die traditionellen Familienstrukturen zerbrechen. „Daß die Eltern getrennt sind, ist ein völliger Normalzustand.“ Der Zerfall traditioneller Institutionen trage mehr zum Identitätsverlust bei als beispielsweise die ökonomischen Umstände. Gleichwohl sei „Wokeness“ auch in anderen Generationen vertreten.
Doch mit Selbstbewußtsein lasse sich gut dagegen kämpfen. „Es ist wichtig, sich nicht einschüchtern zu lassen“, ermuntert Voss die Anwesenden. Und mahnt zum Schluß: Immer kritisch gegenüber jeder Autorität bleiben.
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Quellenlink : BdK-Lesung: BdK-Lesung „Generation Krokodilstränen“: Mit Foucault gegen „Wokeness“